Die Frage, an welchen Normen sich das Handeln der Menschen orientieren solle und wie sich derartige Normen finden, begründen, legitimieren und umsetzen lassen, beschäftigt die Philosophie seit der Antike bis in unsere Gegenwart. Dabei variieren die Antworten auf die Frage, welche Aufgabe die Philosophie hierbei zu übernehmen hat: Soll sie die Praxis beschreiben und analysieren oder selbst ethisch engagiert sein und für bestimmte Werte plädieren? Sollen die Philosophen selbst ethisch vorbildlich handeln oder spielt dies für die philosophische Ethik keine Rolle?
Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts, vor allem aber im 15. Jahrhundert entstehen in Italien außerhalb und neben der akademischen Beschäftigung mit Ethik zahlreiche konkurrierende ethische Entwürfe, die für eine realitätsnahe, ethisch engagierte Moralphilosophie plädieren. Die Verfasser — wie Petrarca, Bruni, Alberti und viele andere — beziehen sich dabei auf unterschiedliche überlieferte Positionen und reklamieren einen in der zeitgenössischen akademischen Philosophie wenig präsenten Begriff von praktischer Philosophie, so daß sich ihnen in besonderer Weise die Frage nach der Legitimierung der von ihnen beanspruchten Autoritäten stellt.
Um dieses kulturelle Phänomen einer "humanistischen Ethik" in seinen Voraussetzungen, Bedingungen und Wirkungen angemessen verstehen und würdigen zu können, soll neben den ethischen Konzepten von Humanisten selbst, die im Zentrum des Kolloquiums stehen, auch den philosophischen Traditionssträngen, die zu der Ausbildung dieser Form von Ethik geführt haben, von der Antike bis ins Spätmittelalter und ihren Nachwirkungen im 16. und 17. Jahrhundert nachgegangen werden. Da die Humanisten nicht in einem "kulturellen Vakuum" schreiben, werden auch die Wechselwirkungen und gegenseitigen Einflußnahmen mit gegenläufigen zeitgenössischen Traditionen bedacht.