Enzyklopädistik zwischen 1550 und 1650 - Typen und Transformationen

Teilprojekt B4: Historica und Poetica in frühneuzeitlichen Wissenskompilationen
8. bis 11. 09. 2005 in Kloster Irsee



Profil

Rahmen und Fragestellung

Zu Beginn der frühen Neuzeit verändern sich das Wissen, seine Organisation und seine Darstellung auf verschiedenen Ebenen, dazu gehören:

Eine wesentliche Ebene der Transformationen liegt im Bereich der historischen Entwicklungen. In einer ersten Phase der Entwicklung der Wissenskompilationen in der Frühen Neuzeit steht das Problem der Wissensordnung im Vordergrund: ein Ordnungsdenken, das sich über die Disziplinen und die Schule auf wissensvermittelnde Werke erstreckt, aber gleichzeitig heterogene Aggregate der traditionellen Ordnungsmuster zuläßt. Großprojekte der Wissenskompilatorik bestimmen die zweite Phase. Sie ist sowohl durch das Bemühen um Vollständigkeit der Ordnungen geprägt, als auch durch die Probleme, die das Anwachsen der Wissensbestände von Auflage zu Auflage mit sich bringt, zu kennzeichnen. Dabei tritt zum einen durch die schiere Menge von Materialien, zum anderen durch immanente Ordnungsprobleme der Systemgedanke hinter andere Ordnungsprinzipien zurück, besonders hinter die alphabetische Ordnung des Wissens (Zwinger / Beyerlinck). Nach dem vorläufigen Ende der großen Wissensspeicher nach 1630 (Alsted) nimmt eine Vielfalt von Darstellungsmedien und -strategien ihren Platz ein. Dazu gehören z.B. Bilder und Illustrationen, Diagramme, Tabellen etc., aber auch literarische Gattungen und Texttypen aller Art, in denen teils beträchtliche Wissensmengen transportiert werden.

Welche Typen von Wissenskompilationen lassen sich unterscheiden? Welchen Dynamiken sind sie unterworfen? In welcher Form, in welchen Teilen und auf welchen Ebenen verändern sich die Wissenskompilationen im Laufe dieser Phasen? Welche Teile oder Bereiche bleiben konstant? Wie und an welchen Stellen der Werke werden die Transformationen begründet? Wie verarbeiten diese Typen das angewachsene Material? Barocke Romane wurden in der Literaturgeschichte gern als 'wildgewordene Enzyklopädien' bezeichnet, aber wurden sie so gelesen? Schon in den Prosaromanen des 16. Jahrhunderts werden theoretische und praktische Informationen weitergegeben (Reiseberichte, Exempel, Wissen über Theorie und Praxis der Magie, Tugend-, Ehe- und Freundschaftslehren). Welchen Informationstypus bilden sie ab? Welche Rolle spielen Kommunikationsformen jenseits des gebildeten Diskurses — z.B. Buntschriftstellerei — für den gesteigerten Informationsbedarf? Welche Medien, welche Prinzipien der Organisation sind in dieser Phase nach ca. 1600/1630 leitend? Wo sind hier die Grenzen zu ziehen: Ein literarischer Text ist keine Enzyklopädie, dennoch transportiert er Wissen? Wie wird das Wissen dargeboten, wie wird es aufgenommen?

Untersucht wurden bisher häufig die globalen Tendenzen, die sich mit philosophischen Grundkonzeptionen verbinden. Die darunter angesiedelten Ebenen, die sich zumeist auf den Konnex von Beschaffung und Präsentation des Materials in Relation zu Verwendungskontexten beziehen, sind dagegen weit weniger erforscht. In diesen Kontext der konkreten Verarbeitung und Darstellung des Materials gehören besonders die Transformationen auf einer mittleren Ebene — wie z.B. Tendenzen zur metaphysischen Einbettung von Wissenskompilationen ab ca. 1550 (Lycosthenes, Gesners Appendix, Mylaeus) — sowie die Mikroebenen der Texte, wie z.B. die Systematisierungsprobleme in den verschiedenen Auflagen der Zwingerreihe, die Auffüllung und Besetzung von Systemstellen, die bisher nur ansatzweise untersucht sind.

Eines der Ziele des Kolloquiums soll es sein, die Veränderungsprozesse auf diesen Feldern zwischen ca. 1550 und 1650 auf verschiedenen Ebenen zu diskutieren. Im Vordergrund soll dabei sowohl der Bereich der Konzeptionen der Wissensspeicher und ihrer Dynamiken, als auch der Bereich der konkreten Inhalte und ihrer Veränderung in Texten, Textreihen und Textgruppen und anderen Medien stehen. Das besser erforschte Feld der globalen theoretischen Metakinetik — also die Einflüsse der großen philosophischen Ordnungskonzepte wie z.B. Aristotelismus, Ramismus und Lullismus auf die Makrostrukturen der Enzyklopädien — soll primär vor diesem Hintergrund in die Diskussionen einfließen.

Schwerpunkte — mögliche Sektionen

  1. Typen von Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen von Wissensspeichern

    Neben umfassenden, im Adressatenbezug offenen oder unspezifischen Enzyklopädien stehen Speicher für verschiedene Gebrauchszusammenhänge. Die Kompilationen passen sich oftmals der Entwicklung von Schulen und Universitäten an, oder sie reagieren auf konfessionelle Differenzen oder Zensur. Definitionen und Abgrenzungsarbeit der verschiedenen Typen auf der synchronen und besonders auf der diachronen Ebene könnten hier im Zentrum stehen.

  2. Transformationen der Wissensspeicher

    Nicht nur die mittelalterlichen unterscheiden sich von frühneuzeitlichen Kompilationstypen, auch in der Frühen Neuzeit sind Veränderungen von Typen und Funktionen zu beobachten. Sie betreffen die verschiedenen Enzyklopädien und auch die Textreihen verschiedener Auflagen, Ausgaben, manchmal Medialisierungsformen, sowohl hinsichtlich der Art als auch besonders des Umfangs. Verschiebungen lassen sich auch auf der Mikroebene im jeweils gespeicherten Bestand beobachten. Welche Bereiche unterliegen der Transformation, welche sind transformationsresistent?

  3. Typen der medialen und literarischen Darstellung von Wissen und ihre Transformationen

    Neben die großen Kompilationen treten andere Typen enzyklopädischer Wissensvermittlung. Sie betreffen z.B. Bilder, Illustrationen und die Rolle von Kunstwerken als Wissensspeicher in z.B. allegorischer oder historischer Funktion. In diesen Bereich gehören auch die Relationen von Wissensspeichern im engeren Sinne und z.B. fiktionalen Texten. Hier wäre zu fragen, wie sich die Art des Wissens und seiner Verwendbarkeit mit dem Medienwechsel verändert und wo die Grenzen der jeweiligen Speichermedien liegen.

Leitfragen

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Programm

Donnerstag, 8. September 2005

19.00
Abendessen

Sektion 1: Typen von Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen von Wissensspeichern

20.30 st.
Prof. Dr. Christel Meier-Staubach (Münster)
Enzyklopädie und Welttheater. Zur Intertheatralität von Universalwissen und weltpräsentierender Performanz
Exposé

Freitag, 09.09.05

Diskussionsleitung: Prof. Dr. Wolfgang Harms
9.00 st.
Prof. Dr. Jörg Jochen Berns (Marburg)
Bildthesaurierung und Bildenzyklopädistik
Exposé
10.15 st.
Dr. Iolanda Ventura (Münster)
Zur enzyklopädischen Kultur Italiens in der Frühen Neuzeit: Ein Überblick über Texttypologien, Organisationssysteme, Vermittlungsstrategien und Entwicklungstendenzen
Exposé
11.30—11.45
Kaffeepause
11.45 st.
Dr. Dirk Werle (Berlin)
Melchior Adams Gelehrtenbiographien und ihr Bezug zur Enzyklopädistik
Exposé
13.00
Mittagspause
Diskussionsleitung: Dr. Herfried Vögel
14.30 st.
Anette Syndikus (München)
Universalismus und Philologie. Zu Gabriel Naudés enzyklopädischen Schriften
Exposé
15.45 st.
PD Dr. Uta Goerlitz (München)
Minerva und das iudicium incorruptum. Wissensspeicherung und Wissenserschließung in Bibliothek und literarischem Nachlaß des Konrad Peutinger
Exposé
17.00
Kaffeepause

Sektion 2: Transformationen der Wissensspeicher

17.30 st.
Dr. Jörg Robert (München)
Methode — System — Enzyklopädie: Transformation des Wissens und Strukturwandel der Poetik im 16. Jahrhundert
Exposé
19.30
Abendessen
20.30 st.
Panel: Aktuelle Fragen und Probleme der Enzyklopädieforschung (Michel, Schneider, Schierbaum)

Samstag, 10. September, 2005

Diskussionsleitung: Prof. Dr. Friedrich Vollhardt
9.00 st.
Prof. Dr. Udo Friedrich (Greifswald)
Zum Verhältnis von Metapherntheorie und Literaturtheorie in den Enzyklopädien der Frühen Neuzeit

Sektion 3: Typen der medialen und literarischen Darstellung von Wissen und ihre Transformationen

10.15 st.
Prof. Dr. Ulrich-Johannes Schneider (Wolfenbüttel / Leipzig)
Wissensmaschinen
Exposé
11.30—11.45
Kaffeepause
11.45 st.
Prof. Dr. Paul Michel (Zürich)
Petrarca, De remediis utriusque fortunae
Exposé
13.00
Mittagessen
Diskussionsleitung: Dr. Martin Schierbaum
14.30 st.
Prof. Dr. Ursula Kundert (Kiel)
Wissen durch Streit. Universitätsdisputationen zwischen 1550 und 1650 als Enzyklopädie im Wandel
Exposé
15.45 st.
Dr. Michael Thimann (Berlin)
"Wer unsre Bilder hier wird ins Gedächtnis stellen". Joachim von Sandrarts Teutsche Academie (1675) und die Systematisierung visuellen Wissens im 17. Jahrhundert
Exposé
17.00
Kaffeepause
17.30 st.
Dr. Frieder von Ammon (München)
Plurale Perspektivierung des Wissens. Zu Formen und Funktionen von Paratexten in enzyklopädischer Literatur und literarischer Enzyklopädik
Exposé
19.30
Abendessen

Sonntag, 11. September, 2005

Diskussionsleitung: Prof. Dr. Jan-Dirk Müller
9.00 st.
Benjamin Steiner (München)
Wissensfülle und Ordnungszwang. Historische Tabellenwerke als enzyklopädischer Typus in der frühen Neuzeit
Exposé
10.15 st.
Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann (Heidelberg)
Buntschriftstellerei
Exposé
11.30—11.45
Kaffeepause
11.45 st.
Abschlußdiskussion
13.00
Mittagessen
anschließend Abreise
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Exposés

Plurale Perspektivierungen des Wissens. Zu Formen und Funktionen von Paratexten in enzyklopädischer Literatur und literarischer Enzyklopädik

Dr. Frieder von Ammon

Enzyklopädistik und Dichtung stehen seit der Antike in vielfältigen Wechsel- und Austauschbeziehungen: im Lehrgedicht, in der gelehrten Dichtung, in der poetischen Integration enzyklopädischen Wissens, in der Enzyklopädisierung poetischen Wissens. Form, Funktion und Wahrheitsanspruch von Dichtung und Enzyklopädistik werden, wenn überhaupt, lange Zeit nur von Fall zu Fall unterschieden; erst allmählich gewinnen literarische Praktiken und Gewohnheiten gattungstypologische Geltung. Hierbei spielen, zumal im Bereich der Enzyklopädistik, Paratexte traditionell und mit dem Buchdruck zunehmend eine entscheidende Rolle. Enzyklopädische Wissensliteratur der frühen Neuzeit weist sich in informativen Titeleien und programmatischen Vorreden, in ordnungsstiftenden Gliederungsmitteln und vielfältigen Benutzerhilfen aus. In einem ersten Schritt unserer Untersuchung soll dieser Prozeß an ausgewählten Beispielen genauer verfolgt und in historischer Perspektive interpretiert werden.

Ein zweiter Teil soll der Adaption paratextueller Strukturen in der Enzyklopädistik in genuin nicht-enzyklopädischen Texten gewidmet sein (wobei der Begriff und der Vorgang selbst noch in Frage stehen). Schon im 16., verstärkt jedoch im 17. Jahrhundert erscheinen Vertreter der Fabel, der Satire, der Tragödie, des höfischen Romans und spezieller Mischgattungen (z.B. Abraham a Sancta Clara, Judas der Ertzschelm) mit Paratexten ausgestattet, die Gattungsvorgaben aufweichen oder gar unterlaufen und jedenfalls enzyklopädische Formen 'ausbeuten'. Eine solcherart 'literarische Enzyklopädik' präferiert bestimmte paratextuelle Formen und prägt neue Funktionen aus (etwa den Kurzschluß zwischen Erzähl- und Lebenswelt; die Verknüpfung von Rezeptionsweisen, z.B. von Schauspiel und Lektüre; die Partikularisierung oder Vermehrung der Information etc.). Ziel ist es, jene Formen im Zusammenhang zu beschreiben und ihre Funktionen an ausgewählten Beispielen zu erörtern.

Obschon generell im Laufe des 17. Jahrhunderts genuin literarische Texte zunehmend paratextuelle Formen der Enzyklopädistik imitieren, treten Text und Paratext in den verschiedenen Gattungen in offenbar je spezifische Verhältnisse zueinander ein. Dabei kommt es — so unsere These — gerade nicht zu einer erneuten Annäherung zwischen Enzyklopädistik und Dichtung, sondern zu vielfältigen Verschiebungen und Transformationen, die den Status, die Vermittlung und die Verarbeitung des Wissens berühren. Der dritte Teil unseres Vortrags gilt solchen 'pluralen Perspektivierungen des Wissens'. Hier soll es weniger um Inhalte als um Strukturen gehen. Folgende Fragen sind leitend: Wie können Paratexte die Lektüre lenken? Wer spricht im Paratext? Wie funktionieren Strategien der Pluralisierung und Autorisierung? Wie reagieren Literatur und mithin ihre Paratexte auf Transformationen im Bereich der Wissensspeicher? — Grundsätzlicher also die Frage nach dem Zusammenhang von der Literarisierung des Wissens und seiner genuin nicht-literarischen Perspektivierung durch Paratexte und weiterhin der Literarisierung paratextueller Konstellationen und deren Wirkungen auf die Speicherung, Ordnung und Verfügbarkeit des Wissens in der Dichtung.

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Bildthesaurierung und Bildenzyklopädistik

Prof. Jörg Jochen Berns
  1. Änderungen des Text/Bild-Verhältnisses auf dem Weg der Enzyklopädistik vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, von den Handschriften zu den Drucken
  2. Wichtigste Typen der textbegleitenden Bilder in verschiedenen frühneuzeitlichen Enzyklopädien, (z. B. Reisch, Fludd, Garzoni)
  3. Visualisierbarkeit bzw. Visualisierungsnotwendigkeit bestimmter Sachen, Sachgebiete, Sachverhalten (z.B. Theologie, Mathematik, Historie, Mythologie, Genealogie, Biologie, Medizin, Geographie, Handwerken, Instrumentenbau, Architektur, Oeconomia u.a.)
  4. Enzyklopädische Bilddidaktik (am Beispiel Stiblin, Porta, Campanella, Bacon, Comenius u.a.)
    • in Büchern (Fibeln)
    • Kommunalräumen (Schulen, Universitäten, Stadtambiente)
    • Kunstkammern
  5. Möglichkeiten der Grammatisierung von Bildern (diverse Bildsprachen, Standardisierung und Variabilisierung im Sog der drucktechnischen Reproduzierbarkeit, Bildzerlegung, Bildkombinatorik, Bildmnemonik)
  6. Frühneuzeitliche Bilderfabriken (de Bry, Merian, Blaeu u.a.)

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Minerva und das iudicium incorruptum. Wissensspeicherung und Wissenserschließung in Bibliothek und literarischem Nachlaß des Konrad Peutinger

PD Dr. Uta Goerlitz

Minerva und das iudicium incorruptum: Die beiden Stichwörter stammen aus einem unveröffentlichten Gedicht aus dem literarischen Nachlaß des Augsburger Humanisten Konrad Peutinger (1465—1547) und verweisen schlaglichtartig auf die Pole, zwischen denen sich die Interessen Peutingers bewegten, der bei seinen Zeitgenossen einerseits für seine universale Gelehrsamkeit bekannt war, andererseits hohes Ansehen als Jurist im Amt des Stadtschreibers der Stadt Augsburg besaß. Beide Seiten sind nicht voneinander zu trennen und zeichnen auch die Zusammensetzung der Bibliothek Peutingers aus, die zugleich als Arbeitsinstrumentarium diente. Als wohl umfangreichste Privatbibliothek ihrer Zeit nördlich der Alpen mit Tausenden von gedruckten und handschriftlichen Einzeltexten, darunter Peutingers literarischem Nachlaß, spiegelt sie das universale Interessenspektrum des Humanisten und Juristen auf einzigartige Weise. Der Vortrag fokussiert ihre Schwerpunkte und fragt danach, wie Peutinger im unmittelbaren Vorfeld der gedruckten Wissenskompilationen des späteren 16. Jahrhunderts mit den Problemen der Speicherung und Erschließung des Wissens in seiner enzyklopädischen Sammlung umgeht, die bereits zu seinen Lebzeiten zahlreiche Gelehrte des In- und Auslandes anzog und nach seinem Tod auf das Interesse von so renommierten Großunternehmen wie den Magdeburger Zenturiatoren stieß.

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Buntschriftstellerei

Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann

Mein Vortrag wird sich unsystematischen Formen und Funktionen der frühneuzeitlichen Wissensvermittlung zuwenden, Werken also, die sich von Enzyklopädien und Fachbüchern abwenden, das hier gespeicherte Wissen nach dem Prinzip der varietas verarbeiten, sich oft an die antike Buntschriftstellerei anschließen, dabei Anregungen der kommentierenden Diskursliteratur aufgreifen, sich in einem weiten Fächer lateinischer wie volkssprachlicher Specimina entfalten, als Vorformen der modernen Essayistik und Journalistik zu begreifen sind, darüber hinaus Interferenzen zu anderen funktionalen Typen (Konversationsliteratur z. B.) erkennen lassen. Behandelte Autoren u.a.: Angelo Poliziano, Johannes Woverius, Philipp Camerarius, Caspar von Barth, Martin Zeiller.

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Wissen durch Streit — Universitätsdisputationen zwischen 1550 und 1650 als Enzyklopädie im Wandel

Prof. Dr. Ursula Kundert

Der Beitrag betrachtet die Disputationen einer Universität als Enzyklopädie, weil sie Wissen nach einem Schema ordnen, das enzyklopädischer Tradition entspricht: Quintilian versteht den griechischen Begriff enkyklios paideia so, dass die Jungen, die (zu Rednern) ausgebildet werden sollen, eine gezielte Auswahl von Wissen aus allen Gebieten erwerben müssen (Quint. 1, 10,-2 und 8). Ein solches Karriere-Modell liegt auch der vielfach ausgebauten Systematik der Künste zugrunde, die in Mittelalter und früher Neuzeit sowohl vielen Enzyklopädien in Buchform als auch den universitären Institutionen zur Ordnung des Wissens dienen. Disputationen schlagen eine Brücke zwischen diesen beiden Wissensformen, weil sie einerseits — vor allem als gedruckte Dissertationen — wie die geschriebenen und gedruckten Enzyklopädien zum gelehrten Schrifttum gehören, andererseits aber als Unterrichts- und Aufführungsform integraler Bestandteil des Universitätsbetriebs sind und symbolische Formen dieser Institution enthalten, die über das Schriftstück hinausgehen.

In der Disputation wird Wissen, im Streit zugespitzt, zum Ereignis. Darin zeigt sich ganz deutlich, dass dieses Wissen eine soziale Grösse ist, weil es in Handlungen hergestellt wird und normative Implikationen aufweist. Denn es profitiert gerade in der Aufführungssituation als Teil einer Institution, zu deren Etablierung und Legitimation die Disputation beiträgt, von deren Prestige, um geglaubt zu werden. An der Disputation lässt sich die wissenssoziologische Annahme besonders gut illustrieren, dass Wirklichkeit im Sinne eines Wissens, was der Fall ist (Goffman, 1977, S. 34), nur durch eine "permanente Aktivität aller Individuen" zustande kommen kann, wodurch Wissen zur Gewissheit wird (Plessner in: Berger/Luckmann, 17. Aufl. 2000, S. XII). Zwar lässt sich der genaue mündliche Ablauf einer Disputation selten aus der Druckschrift ableiten, aber für die Frage danach, welches Wissen an einer Universität zu einer bestimmten Zeit nicht nur in den Bibliotheken stand, sondern gedacht wurde, ist es von grossem Vorteil, dass wir bei der Betrachtung der Dissertationen davon ausgehen können, dass das darin erwähnte Wissen in einem grösseren sozialen Rahmen aktualisiert wurde.

In Bezug auf Transformationen verhält sich die Disputation ambivalent: Einerseits ist sie eine Lehrform, welche sehr grossen Wert auf die Argumentation mit Autoritätszitaten legt und daher altes Wissen tradiert. Andererseits kann gerade in diesem Teil des akademischen Unterrichts der frühen Neuzeit auch Anderes und Neues ausprobiert werden und sei es als Meinung des Opponenten.

Im Überblick der verschiedenen Universitäten des deutschsprachigen Raumes zeigt sich in den erhaltenen Dissertationen eine mehr oder weniger starke Schwerpunktbildung, so dass wir es durchaus mit verschiedenen Enzyklopädien zu tun haben. Der Beitrag konzentriert sich auf die Universität Basel, welche sich mit ihrem gut erhaltenen Dissertationenschatz besonders für eine diachrone Untersuchung eignet, die aufzeigt, wie sich die Themenwahl verlagert und welche Eigengesetzlichkeit, aber auch Wandlungsfähigkeit der Gattung Dissertation und der Präsentationsform Disputation eignen.

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Enzyklopädie und Welttheater. Zur Intertheatralität von Universalwissen und weltpräsentierender Performanz (Arbeitstitel)

Prof. Dr. Christel Meier

Auch wenn Enzyklopädie und Theater nahezu als entgegengesetzte Medien der Information und Präsentation und insbesondere des Wissenstransfers gelten können und sich in der Regel an differente Rezipientengruppen richten — man denke an die Konkretisierung des Gegensatzes im Gelehrten als komische Figur des Fastnachtspiels (Ridder, 1999) —, lassen sich zwischen ihnen doch Affinitäten erkennen und Vergleiche ziehen, über die zugleich Grundfragen von Literatur und Weltvermittlung in der Frühen Neuzeit erreicht werden, wenn ihre Intention und Strategien sich der Analyse öffnen. Dies ist auf mehreren Ebenen anhand von ausgewählten Zeugnissen aus Enzyklopädik und Drama zu verfolgen.

Die Konvergenzen und Divergenzen sollen unter vier Aspekten diskutiert werden. Inhaltlich wird zuerst die Präsentation der kosmischen und natürlichen Welt unter der Vorstellung des theatrum mundi und der (virtuellen) Wunderkammer, dann die Medialisierungen der moralischen Ordnungen unter den Leitbegriffen von historia und exemplum vergleichend abzuhandeln sein. Hierzu wird der Begriff der 'Intertheatralität' neu eingeführt, der die Konvergenzen umfassender zu begründen hilft. Danach sind die Strategien in beiden Bereichen zu prüfen, mit denen in Makro- und Mikrostrukturen Universalität konstituiert und vermittelt wird. Schließlich wird die Auswertung der jeweiligen intentio operis, der Gewichtung von prodesse und delectare sowie ihrer Begründung für beide Text- und Aufführungstypen im Hinblick auf die Kommunikationsformen, die Adressaten und die Trägerinstitutionen zu leisten sein.

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Petrarca, De remediis utriusque fortunae

Prof. Dr. Paul Michel

Petrarcas De remediis utriusque fortunae gehört sicherlich zur wissensvermittelnden Literatur, deren Kennzeichen ist, dass sie nicht als Ganzschriftlektüre, sondern zum Nachschlagen dient und eine bunte Fülle in sich nicht zusammenhängender Auskünfte bietet. Das Werk kann zum Auffinden von Warnungen für sich über einen Glücksfall Freuende (A) als auch von Trostargumenten für Niedergeschlagene (B) konsultiert werden.

Eine erste deutsche Übersetzung von Peter Stahel und Georg Spalatin mit den 261 Holzschnitten des unbekannten Meisters erschien 1532 bei Steiner in Augsburg. Elf weitere Auflagen erlebt es bis 1672.

Die Frage der Leitidee der 'tranquillitas animi' und diejenige der Vermittlung einer heidnisch-antiken und einer christlichen Position möchte ich nicht thematisieren; das sind Fragen der Humanismusforschung i.e.S. Für den Problemkreis der Enzyklopädistik wäre interessanter: Petrarcas Quellen und Exzerpiertechnik sowie das Arrangement der Argumente; vor allem wäre danach zu fragen, ob sich die 'Heilmittel' gegen das gute Glück und diejenigen gegen das widerwärtige gegenseitig dementieren, ähnlich wie wir dies von Ovids Remedia her kennen oder des Boistuau Théâtre du Monde und Grimmelshausens Satyrischem Pilgram. Dazu vielleicht später.

Da die Tagungsleitung das Thema 'mediale Transformation von Wissen' anbietet, möchte ich die Bilder der deutschen Fassungen in den Focus stellen, wozu ich bereits ein erstes Aperçu (1998) publiziert habe.

Die Aufgabe einer "visirlichen angebung" für den Holzschneider war eine vertrackte. Hier ging es nicht um die Illustration narrativer Ensembles (wie bei Tierfabeln, biblischen Szenen oder in des Livius Geschichtsbuch) oder um die Wiedergabe von Pflanzen oder Portraits oder Stadtveduten oder von Handwerkern bei der Arbeit, sondern um das Ins-Bild-Bringen (mediale Transformation!) abstrakter Sachverhalte, die Petrarcas Text enthält, wie zum Beispiel:

'Das Tanzen bereitet Freude' — eine Szene von Tänzerinnen und Tänzern wird gezeigt (das scheint zunächst eine simple szenische Vergegenwärtigung); im nahen Gebüsch ein Liebespaar in verfänglicher Pose, d.h. beigegeben wird die Visualisierung der im Text stehenden Warnung, die Tanzerei führe zu Unzucht (A, Kapitel XXIIII).

'Tüchtige Lehrer haben oft unartige Schüler' — Visualisierung mittels eines Exempels: Nero zwingt seinen Praeceptor Seneca zum Suizid (A LXXXI) — der Typ des ungelehrigen Schülers kann aber auch mittels Indizierung mit dem Signum der Narrenkappe dargestellt werden (B XLI).

'Ich werd getribenn durch die stacheln des geytz' ('avaritiae stimulis urgeor') — die Metapher wird konkretisiert: ein Nackter sitzt, umgeben von Geldsäcken und -Truhen auf einem Dornenrankenhaufen (B CV).

'Ich hoff guots lobs / nach dem tod' — eine Personifikation der Fama (ähnlich wie in Brants Vergil-Ausgabe 1502) ist abgebildet (A CXVII).

'Ich hoff Frid des gemüts' — ein Mann, dem eine Blume aus der Brust herauswächst, von Fliegen (oder sonstwelchen Insekten) umschwirrt (A CXXI) — es müsste abgeklärt werden, ob das Bild über gängige Allegorien gewonnen wurde.

Hier drängt sich eine Umkehrung der Betrachtungsrichtung auf: wozu werden die Fliegen in anderen Bildern eingesetzt? (A XI; B LXXXVI; B XC)

Ich möchte einige Typen solcher medialer Transformation herausarbeiten: Exemplum — Konkretisierung einer Metapher — Umsetzung einer idiomatischen Redensart — szenische Vergegenwärtigung — Personifikation — u.a.m.

Literatur:

Franciscus Petrarca, Von der Artzney bayder Glück / des guten vnd widerwertigen, Augsburg: Steiner MDCXXXII, hg. und kommentiert von Manfred Lemmer, Leipzig 1984. (Der lateinische Text und die Übersetzung von Stephanus Vigilius werden beigezogen)

Klaus Heitmann, Fortuna und virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, Köln/Graz: Böhlau, 1958 (Studi italiani 1)

Joachim Knape, Die ältesten deutschen Übersetzungen von Petrarcas 'Glücksbuch'. Texte und Untersuchungen, (Gratia Heft 15), Bamberg 1986.

Francesco Petrarca, Heilmittel gegen Glück und Unglück. Lateinisch-deutsche Ausgabe, in Auswahl übersetzt und kommentiert von Rudolf Schottländer, hg. Eckhard Keßler, München: Fink 1988.

Paul Michel, "Frosch-Regen. Meteorologie — Exegese — Ikonographie", in: Daphnis 27 (1998), S. 203—229.

Petrarch's Remedies for fortune fair and foul. A modern English translation of De remediis utriusque fortune, with a commentary by Conrad H. Rawski, Bloomington [u.a.]: Indiana University Press, 1991. (Vol. 1: Remedies for Prosperity — Translation. Vol. 2: Remedies for Prosperity — Commentary. Vol. 3: Remedies for Adversity — Translation. Vol. 4: Remedies for Adversity — Commentary. Vol. 5: References: Bibliography, Indexes, Tables and Maps)

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Methode — System — Enzyklopädie: Transformation des Wissens und Strukturwandel der Poetik im 16. Jahrhundert

Dr. Jörg Robert

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts läßt sich innerhalb des im weiteren Sinne poetologischen Diskurses ein Strukturwandel beobachten, der eng mit den allgemeinen Transformationen des Wissens, seiner Ordnung(en) und Organisation(en) korreliert. Findet die Poetik der ersten Jahrhunderthälfte noch in der imitatio veterum ihr fundierendes Konzept (Ciceronianismus, Petrarkismus etc.), so verlagert sich das Interesse seit der Jahrhundertmitte zunehmend von den einzelnen auctores auf die auctoritas des poetologischen Systems als solches. Nicht mehr die Nachahmung eines einzelnen oder mehrerer Autoren, sondern die 'rationale' Ordnung des poetologischen Feldes sichert nun Dignität und Autorität des Unterfangens. Die Poetik (wie die Poetiken) stellt um auf Leitideale wie ordo, ratio, methodus. Dieser Paradigmenwechsel wird zuerst greifbar in Julius Caesar Scaligers Poetices libri septem (publ. postum 1561; verfaßt bereits in den Vierziger Jahren), die hier pointiert als Wissensspeicher und Ordnungsinstrument gelesen werden sollen. Scaligers aristotelische Normpoetik reagiert nämlich auf eben jene Pluralisierungserfahrungen, wie sie die Ökonomie des Wissens im allgemeinen und die der Wissenskompendien im besonderen bestimmen. Sie versteht sich in erster Linie als Ordnungs- und Regulationsinstrument, das der 'gefühlten' Pluralisierung und Disparität einer widersprüchlichen poetischen wie poetologischen Überlieferung (Horaz und Aristoteles) den kompensativen Willen zum System entgegensetzt. Hier greifen dieselben philosophischen Ordnungsmechanismen und -methoden wie im engeren Bereich der Enzyklopädistik (Topik, Dialektik, Systemgedanke), freilich auch dieselben Aporien und Ernüchterungen. Der Anspruch, das Feld der Poetik in seiner Totalität und (inneren) Logizität zu beschreiben, erweist sich (auch) bei Scaliger als prekäres Ideal, das durch die Widerständigkeit und Disparität der Traditionsbestände auf der Mikroebene des Regelwerks immer wieder konterkariert wird.

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Wissensmaschinen

Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider

Enzyklopädien sind Bücher sind Wissensmaschinen — auf dieser Hypothese beruht das Konzept einer Ausstellung, welche im Jahr 2006 mit den Beständen der Universitätsbibliothek Leipzig und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel die Geschichte der Enzyklopädieproduktion von 1500 bis 1750 beleuchten will. Die Ausstellung soll die Heterogenität der enzyklopädischen Produktion zur Geltung bringen, ohne explizit Entwicklungslinien zu ziehen. Vom größten enzyklopädischen Werk der Frühen Neuzeit, Zedlers Universal-Lexicon, richtet sich der Blick auf den Raum der 300 Jahre davor und konzentriert sich darin auf solche Bücher, die als Wissensmaschinen gebaut wurden.

Wissensmaschinen haben immer mehr als nur einen Autor, entweder weil sie als Kompilation angelegt sind oder weil sie als kollektive Unternehmung von mehreren Autoren (diachron etwa bei Moréri, syn­chron etwa bei Zedler) bzw. als verlegerische Projekte ins Werk gesetzt werden. Die Ausstellung zielt auf besonders umfangreiche Werke mit wenigstens 1.000 Einträgen, die über die alphabetische Anordnung des Textes selbst oder des Registers erfaßt werden. Der Gesichtspunkt des gebauten Buches gilt dabei mehr als fachliche oder sachliche Abgrenzbarkeit: Alle Wissensgebiete kommen in Betracht.

Die Wissensmaschinen sollen aus ihrem je eigenen Funktionieren heraus begriffen werden, nicht aus einer vorverstandenen Geschichte des Wissens. Es wird ein Raum des Wissens abgesteckt, der viel vom Umgang mit den Dingen erzählt und kein Subjekt fingiert, das die Synthese des Gewußten leistete. Wissen wird als eine effektive Größe analysiert, nicht als eine Potentialität rekonstruiert.

Die Ausstellung ist ein Gedankenexperiment: Gibt es diesen Raum des Wissens, diese Landschaft der Kenntnisse, diese Prozeduren der Informationsverarbeitung tatsächlich, und gibt es sie mehr oder weniger gleichzeitig? Müssen nicht auch Bücher in ihren praktischen Funktionen und pragmatischen Dimensionen befragt werden (Unterricht, Gelehrsamkeit, Sammlung, Informationsaustausch etc.)? Sind tatsächlich die meisten Wissensmaschinen latent anonym konstruiert oder spielt die Individualität von Autoren gerade umgekehrt eine entscheidende Rolle? Welche Restriktionen sind durch die Beschränkung auf die Bestände zweier mitteldeutscher Bibliotheken impliziert? Gibt es so etwas wie eine bibliothekarische Exposition ohne historische Interpretation?

Mein Vortrag gibt Beispiele und versucht Material zur Beantwortung dieser Fragen bereitzustellen.

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Wissensfülle und Ordnungszwang. Historische Tabellenwerke als enzyklopädischer Typus in der frühen Neuzeit

Benjamin Steiner

Tabellenwerke haben als Ordnungstypus eine besondere Bedeutung für den formalen Umgang mit der seit der Erfindung des Buchdrucks enorm anwachsenden Menge zugänglich gewordener historischer Informationen. Ähnlich wie in vielen anderen Wissensgebieten der frühen Neuzeit war die sich zur Disziplin formierende Historiographie seit Mitte des 16. Jahrhunderts im verstärkten Maß damit beschäftigt, sich einen Überblick über das historische Wissen der Zeit zu verschaffen. Mein Vortrag soll den Formalismus der tabellarischen Ordnung mit der frühneuzeitlichen Enzyklopädistik in Relation bringen, wobei auch die spezifischen Eigenheiten dieses Ordnungstyps herausgearbeitet werden sollen. Die Tabellenwerke dienten zwar als enzyklopädische Wissensspeicher, doch fehlte ihnen der Anspruch aristotelischer, ramistischer oder lullistischer Ordnungsentwürfe, dem gesammelten Wissen einen abgeschlossenen Systemcharakter, d.h. den Charakter der Vollständigkeit, Deduzierbarkeit und Homogenität, zu verleihen. Beim tabellarischen Raster handelte es sich vor allem um ein offenes "Aufschreibesystem" (Friedrich Kittler), das bemüht war, der reinen Akkumulation von Informationen mit bestimmten Techniken zu begegnen, wie beispielsweise dadurch, die Spaltenanzahl zu erweitern, Zeilenabstände auszudehnen oder zu verengen oder auch nur durch das Weglassen bestimmter Informationen.

Es soll anhand einiger ausgewählter Quellenbeispiele aus dem Zeitraum von ca. 1550 bis 1650 gezeigt werden, wie diese Techniken einer dynamischen und flexiblen Ordnung im einzelnen funktionierten und immer weiter verfeinert und ausdifferenziert wurden (Quellenbeispiele: Alexander Scultetus, Chronographia, Rom 1546; David Chytraeus, Chronologia, Straßburg 1563; Heinrich Pantaleon, Annales seu Tabulae chronologicae, Straßburg 1602; Christoph Helwig, Theatrum historicum, Gießen 1609; Jacques Gaultier, Tabula chronographica, Köln 1616; Johann Heinrich Alsted, Thesaurus chronologiae, Herborn 1637; Christoph Schrader, Tabulae chronologicae, Helmstedt 1642). Deutlich sollte im Vortrag vor allem werden, dass Tabellen eine Alternative zu den von der Forschung in den Vordergrund gestellten Ordnungen des Wissens (Aristotelismus, Lullismus, Ramismus, Topica universalis etc.) darstellen. Sie scheinen ähnlich wie die alphabetische Ordnung keinen metaphysischen Vorgaben zu unterliegen, strukturieren das Wissen aber anders als diese nach Kategorien und setzen die historischen Daten in ihr synchrones und diachrones Gefüge. Offen bleibt dabei aber zunächst, und diese Fragen soll der Vortrag nur anreißen, inwiefern auch dieses äußerst basale Ordnungsgefüge doch äußeren und inneren Zwängen, die durch konfessionelle Prägung, praktische Umstände im Anwendungsfeld der Schule, eschatologische Endzeiterwartungen oder universalhistorische Einheitsvorstellungen entstehen, unterlag.

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Universalismus und Philologie. Zu Gabriel Naudés enzyklopädischen Schriften

Anette Syndikus

Genaue philologische Quellenarbeit und der Versuch, 'alle Künste und Wissenschaften' zu erfassen, scheinen sich auszuschließen. In Gabriel Naudés enzyklopädischen Schriften jedoch finden sich beide Ansprüche — zumindest der Intention nach — vereint (u.a. Advis pour dresser une bibliothèque, 1627; Bibliographia politica, 1633): Erst die Kenntnis verschiedenartiger, auch bisher vernachlässigter Bücher und Erfindungen aus der Vergangenheit ermögliche Fortschritte in den Wissenschaften; denn nur so, durch das Abwägen der Standpunkte, werde das Urteilsvermögen geschärft. Daß mit Naudés Betonung der Gesamtheit der Disziplinen in ihrem historischen Verlauf tatsächlich eine Neuordnung des Wissens in Gang gesetzt wurde, belegt die Rezeption seines Ansatzes in der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte in Deutschland (Historia literaria) ab 1650.

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"Wer unsre Bilder hier wird ins Gedächtnis stellen" — Joachim von Sandrarts Teutsche Academie und die Systematisierung bildlichen Wissens im 17. Jahrhundert

Dr. Michael Thimann

Das Hauptwerk der akademischen Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts in deutscher Sprache ist kein Werk der Literatur allein. Vielmehr sind die drei sukzessiv erschienenen Foliobände der Teutschen Academie (1675—1680) ein komplexes Bild-Text-Kunstwerk und enzyklopädisch geordnetes Lehrgebäude, dessen Struktur bisher weitgehend unbeachtet blieb. Sandrart griff bei der Ordnung des Bildmaterials, das er dem Leser seines Werkes in mnemotechnischer Absicht vor Augen stellt, auf enzyklopädische Ansätze der antiquarischen Gelehrsamkeit des 16. Jahrhunderts zurück. Im Vergleich etwa mit Jean Jacques Boissards sechsbändiger Topographie des antiken Rom (1597—1602) sollen Parallelen und Unterschiede herausgestellt werden. Sandrart unternahm den Versuch einer visuellen Repräsentation des gesamten Kunstwissens, das er in systematisch-topischer Gliederung aufbereitet hat. Damit ist in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive die Frage zu stellen, ob es sich bei der Teutschen Academie nicht eher um eine veritable Enzyklopädie als um einen kunsttheoretischen Traktat handelt, als der Sandrarts Bild-Text bisher klassifiziert wurde.

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Zur enzyklopädischen Kultur Italiens in der Frühen Neuzeit: Ein Überblick über Texttypologien, Organisationssysteme, Vermittlungsstrategien und Entwicklungstendenzen

Dr. Iolanda Ventura

Die italienische Kultur der Renaissance und der Frühen Neuzeit ist durch ein besonderes Interesse für die enzyklopädischen Texte charakterisiert: Zwischen 1500 und 1700 entstanden mehrere lateinische und volkssprachliche Enzyklopädien für ein vielschichtig differenziertes Publikum, die sich entsprechend durch verschiedene Organisationsformen und Vermitt­lungs­strategien des gesammelten Wissens auszeichnen.

Einige Studien, u.a. von C. Vasoli, haben dazu beigetragen, Persönlichkeit und Werk einiger Enzyklopädiker zu untersuchen und zu interpretieren; besonderes Interesse galt dabei Giorgio Valla und Girolamo Cardano. Unter den volkssprachlichen Texten richteten Forscher wie P. Cherchi ihr Augenmerk auf die literarische Gattung der Selve, eine besondere Art enzyklopädischer Kompilationen, die von der Vorliebe der Frühen Neuzeit zur Polygraphie Zeugnis ablegen. Insgesamt fehlen jedoch noch umfassende Studien, die zur Vorbereitung einer zukünftigen 'Geschichte der enzyklopädischen Kultur Italiens' dienen können.

Ziel meines Beitrags ist es, eine vorläufige und notwendigerweise beschränkte Skizze der Entwicklung der lateinischen und volkssprachlichen enzyklopädischen Literatur in frühneuzeitlichen Italien vorzulegen. Mit Hilfe ausgewählter repräsentativer Texte werden verschiedene Werktypologien und -niveaus dargestellt, die von den Gelehrtenenzyklopädien bis zu den populären Kompilationen reichen. Außerdem werden einige von den Kompilatoren entwickelten Systeme der Organisation von Wissen mit dem Ziel untersucht, die Rolle der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu erläutern. Schließlich wird der Frage nach den von den verschiedenen Autoren konzipierten Vermittlungsstrategien und ihren Beziehungen zum Publikum nachgegangen, um die Funktion der Enzyklopädien als Vermittler von wissenschaftlicher Kultur zu analysieren.

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Melchior Adams Gelehrtenbiographien und ihr Bezug zur Enzyklopädistik

Dr. Dirk Werle

In der neueren Forschung zu den enzyklopädischen Wissensordnungen der frühen Neuzeit wurde deren räumlich-statischer Charakter zu Recht betont: Frühneuzeitliche Wissensordnungen sind universaltopisch strukturiert, und ihre Herstellung erfordert die konzeptionelle Entscheidung entweder zugunsten universaler Erfassung der Wissensbestände — mit der Kehrseite einer immer schwierigeren Orientierung bei wachsenden Textmengen — oder einer Selektion nach vorab festgelegten Kriterien — mit der Kehrseite einer Ausgrenzung bestimmter Wissensansprüche.

In meinem Beitrag möchte ich jedoch dafür argumentieren, dass die These vom räumlich-statischen Charakter enzyklopädischer Wissensordnungen fehlgeht, wenn sie verabsolutiert wird: Die zeitliche Entwicklung des gelehrten Wissens und seine Bindung an Personen spielen bereits um 1600 eine wichtige Rolle im Rahmen enzyklopädischer Wissensordnungen.

Historisch plausibilisieren möchte ich meine These durch die Untersuchung der Gelehrtenbiographien des Heidelberger Schulrektors Melchior Adam, die er 1615 in seinen — 1663 und 1705 neu aufgelegten — Vitae philosophorum versammelt. Dass dieses Werk im Rahmen der frühneuzeitlichen Enzyklopädistik zu verorten ist, darüber dürfte aus der Sicht der heutigen Forschung mit ihrem erweiterten Enzyklopädiebegriff, der nicht nur Lexika, sondern verschiedenste Typen geordneter Wissensdarstellung und -vermittlung in Texten umfasst, kein Dissens bestehen: Adam organisiert das gelehrte Wissen nicht nach Sachgebieten wie ein Lexikon oder nach Texteinheiten wie eine Bibliotheca, sondern nach Autorsubjekten. Aber bereits in zeitgenössischer Perspektive wird die Zugehörigkeit der Gelehrtenbiographie zur Enzyklopädistik gesehen: Bibliothecae wie die von Paul Bolduan oder Philippe Labbé verzeichnen Adams Texte unter der Rubrik Bibliothecae selbst.

Es gilt zu zeigen, dass Adams Gelehrtenbiographien im zeitgenössischen Gebrauchszusammenhang — bei aller topisch-rhetorischen Typisierung und Verhaftetheit in der Gattungstradition seit Sueton — neben den traditionellen Funktionen der moralischen Instruktion und der Unterhaltung ein Ordnungsmodell des gelehrten Wissens darstellen, einen wissenschaftspragmatischen Zweck erfüllen und im Rahmen einer Vorläufergeschichte der Wissenschaftsgeschichtsschreibung eine zentrale Stelle einnehmen. Sie sind Teil eines Transformationsprozesses, innerhalb dessen die frühneuzeitliche Enzyklopädistik ein historisches Selbstbewusstsein entwickelt, das die gelehrte Produktion mehr und mehr bestimmt. Außerdem sind sie in Zeiten der Pluralisierung des gelehrten Wissens Teil einer Strategie der Herstellung externer Autorität bestimmter Wissensansprüche durch Zuteilung von Ruhm und Erzählung von Heldengeschichten.

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