Die Pluralisierung des Paratextes
Formen, Funktionen und Theorie eines Phänomens frühneuzeitlicher Kommunikation

Tagung
5.-8. April 2006
Lyrik Kabinett München
Amalienstraße 83, Rückgebäude

Um eine kurze schriftliche Anmeldung bis zum 26. März wird gebeten: frieder.vonAmmon@gmx.net



Tagungsbeschreibung

Als ein Spezifikum, ja geradezu als Epochensignatur kann die Multiplizierung, die Differenzierung, Hierarchisierung und Autonomisierung, insgesamt: die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit verstanden werden. (Pluralisierung meint damit nicht Vermehrungs-Phänomene rein quantitativer Art, sondern komplexere Erscheinungen, bei denen eine quantitative Vermehrung strukturelle Veränderungen zur Folge hat.) Zwar haben einzelne paratextuelle Elemente auch in der Buchkultur der Antike und des Mittelalters eine — mitunter bedeutsame — Rolle gespielt, man denke etwa an Gliederungselemente, an Illustrationen (von dem Codex Virgilianus bis zu den Randmarkierungen in Wittenwilers Ring), an textliche und bildliche Widmungen oder an die Inhaltsverzeichnisse und Register von Sammelhandschriften; doch mit der Erfindung des Buchdrucks gewinnt der Paratext fundamental an Bedeutung. Das hängt offenbar mit den durch den Druck völlig veränderten Rahmenbedingungen literarischer Kommunikation zusammen: Die Teilhabe des einzelnen Buchs an einem je spezifischen kulturellen Kontext geht im Zuge der Entpragmatisierung, Entindividualisierung und Anonymisierung literarischer Kommunikation zunehmend verloren. Nun regelt der Paratext die Kommunikation zwischen Produzent, Text und Rezipient. Aufgrund dieser — damit noch sehr allgemein bestimmten — Funktionsveränderung kommt es vom späten 15. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zu einer im Vergleich zur Handschriften-Kultur erstaunlichen Pluralität paratextueller Phänomene, die von der Etablierung neuer (Titelblatt, Titelkupfer, Erklärung des Titelkupfers, Exlibris, Motto, Ehrengedicht usw.) bis zur formalen und funktionalen Ausdifferenzierung herkömmlicher paratextueller Elemente (Widmung, Vorrede, Marginalie, Register etc.) reicht und die die Frühe Neuzeit insgesamt als eine Epoche des Paratextes erscheinen läßt.

Das Kolloquium nimmt sich vor, die Frühe Neuzeit in den Blickpunkt der Paratext-Forschung zu rücken, die sich bislang vorwiegend mit der Zeit ab dem 18. Jahrhundert beschäftigt hat: Formen, Funktionen und Theorie des frühneuzeitlichen Paratextes sollen erstmals in großem Zusammenhang untersucht werden, und zwar in einem Zeitraum von ca. 1400 bis ca. 1750. Zum Gegenstandsbereich gehören grundsätzlich alle Genera der frühneuzeitlichen Schriftkultur (Publizistik, Wissensliteratur, 'schöne' Literatur usw.).

Dabei wird es darum gehen, die Perspektiven der Paratext-Forschung mit denen des Münchner SFBs 573 Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit zu verbinden. Denn der Paratext ist nicht nur selbst diesem epochalen Kräfteverhältnis ausgesetzt, sondern wird möglicherweise auch zu einem Ort, an dem weitere mit diesen beiden Leitbegriffen beschreibbare Phänomene erkennbar werden: etwa wenn pluralisierende Tendenzen eines Textes in seinem Paratext emphatisch kommuniziert oder sogar inszeniert werden bzw. wenn im Gegenteil deren Kommunikation durch den Verweis auf Autoritäten zu verschleiern oder zu verhindern versucht wird. Das Kolloquium zielt insofern nicht nur auf eine Formgeschichte des Paratextes ab, sondern gerade auch auf die Erforschung seines kommunikativen Potentials, das heißt auf die Frage, inwiefern sich Pluralisierung bzw. Autorität über Paratexte vermittelt. Eine andere Fragestellung betrifft das Verhältnis zwischen der Pluralisierung des Paratextes auf der einen und der Autorität des Textes auf der anderen Seite. Es ist davon auszugehen, daß auch hier epochenspezifische Veränderungen zu beobachten sind.

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Programm

Mittwoch, den 5. April

16:30—17:00
Eröffnung
Diskussionsleitung: Wulf Oesterreicher
17:00—18:00
Erich Kleinschmidt (Köln)
Gradationen der Autorschaft. Zu einer Theorie paratextueller Intensität
18:00—19:00
Erika Greber (München)
Text und Paratext als Paartext: Sybille Schwarz und ihr Verleger

Donnerstag, den 6. April

Diskussionsleitung: Frieder von Ammon
9:00—10:00
Ulrike Landfester (St. Gallen)
Goethes Poetik der Paratexte
10:00—11:00
Stefanie Stockhorst (Augsburg)
Dichtungsprogrammatik zwischen rhetorischer Konvention und autobiographischer Anekdote. Zur poetologischen Normenbildung in barocken Paratexten
11:00—11:30
Kaffeepause
11:30—12:30
Jörg Krämer (München)
Paratexte in der Librettistik
12:30—14:00
Mittagspause
Diskussionsleitung: Michael Schilling
14:00—15:00
Werner Wolf (Graz)
Prologe als Paratexte und/oder dramatische Rahmungen?
15:00—16:00
Christian Sinn (Konstanz)
Comico-tragoedia, tragi-comedie, Trauer-Spiel. Gattungshybride in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Problematisierung von Rezeption und Autorität

Freitag, den 7. April

Diskussionsleitung: Peter Strohschneider
9:00—10:00
Bettina Wagner (München)
An der Wiege des Paratexts. Formen der Kommunikation zwischen Autoren, Druckern und Lesern im 15. Jahrhundert
10:00—11:00
Burkhard Moennighoff (Hildesheim)
Über einige Widmungsregeln im barocken Buch
11:00—11:30
Kaffeepause
11:30—12:30
Frank Büttner (München)
Die Bilder und ihre Paratexte in der frühen Druckgraphik
12:30—14:00
Mittagspause
Diskussionsleitung: Friedrich Vollhardt
14:00—15:00
Nicole Schwindt (Trossingen)
Zwischen Musikhandschrift und Notendruck: Paratexte in den ersten deutschen Liederbüchern
15:00—16:00
Joachim Steinheuer (Heidelberg)
Formen und Funktionen von Paratexten in italienischen Musikdrucken des 17. Jahrhunderts
16:00—16:30
Kaffeepause
16:30—17:30
Dietmar Peil (München)
Titelblätter/Titelkupfer — ein Programm? Analyse einiger Beispiele aus der Frühen Neuzeit

Samstag, den 8. April

Diskussionsleitung: Wolfgang Harms
9:00—10:00
Martin Schierbaum (München)
Paratexte und ihre Funktion in der Transformation von Wissensordnungen am Beispiel der Reihe von Zwingers 'Theatrum Vitae Humanae'
10:00—11:00
Ralph Haefner (Berlin/München)
Die Vorlesungsskripte des Hamburger Literaturwissenschaftlers Johann Albert Fabricius (1668—1736)
11:00—11:30
Kaffeepause
Diskussionsleitung: Michael Waltenberger
11:30—12:30
Sven Grosse (Erlangen)
Der Paratext als Ort der geistlichen Poetik. Johann Heinrich Feustkings "Vorbericht" zu seiner Ausgabe von Paul Gerhardts Liedern von 1707
12:30—14:00
Mittagspause
14:00—15:00
Nikola von Merveldt (Montreal)
Konfessionalisierung der Schrift? Zu Bibeldrucken des 16. und 17. Jahrhunderts
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