Philologie als Wissensmodell

Philologie und Philosophie in der Frühen Neuzeit

Tagung vom 20.-22. Juli 2006
Internationales Begegnungszentrum der Wissenschaft (IBZ)
Amalienstraße 38, 80799 München

Organisation: Fosca Mariani Zini/Friedrich Vollhardt/Denis Thouard



Beschreibung

Im Zuge der Entwicklung des humanistischen Umgangs mit antiken Schriften hat sich nicht nur der Vorrat an Mustern, Auctoritates und Inspirationsquellen vermehrt, vielmehr hat die philologische Aneignung der kulturellen Erbschaft des Altertums auch eine gewisse Distanzierung befördert. Indem die Philologie die Form der Überlieferung untersuchte, hat sie zugleich deren Geltung in Frage gestellt. Die Ambivalenz der Philologie besteht darin, sich die Antike auf moderne Weise anzueignen. Dabei wird der Wert der Quellen durch die Art ihrer Untersuchung und Behandlung angetastet. Aus dieser wissenschaftlichen Behandlung der Autoritäten entsteht ein Interpretationsstreit, da die Philologie Anspruch auf eine Form des Wissens erhebt.

Die Frühe Neuzeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie nacheinander zwei wissenschaftliche Revolutionen unterschiedlicher Natur hervorgebracht hat. Bei der ersten handelt es sich um die Erfindung der Philologie als kritischer Umgang mit Texten, der es erlaubt — etwa seit Valla oder Poliziano —, die Zeugnisse der Vergangenheit einer systematischen Untersuchung zu unterziehen. Die Handschrift wird zum Gegenstand sorgfältiger Untersuchung, die mittels der Urteilskraft (Iudicium) des "Kritikers" zustande kommt. Die Textüberlieferung wird vor das Gericht des Kritikers gestellt. Dabei stellt die Philologie die große wissenschaftliche Leistung des Humanismus dar, die unserer Annahme nach die Voraussetzung für die zweite, mit den Namen Galilei und Cartesius verbundene wissenschaftliche Revolution der Neuzeit geschaffen hat. Da aber die neuzeitliche Philosophie galileisch-cartesianischer Prägung einer geometrischen Inspiration gefolgt ist, die ihren Gegenstand im abstrakten Raum des Denkens nachkonstruiert, gerät sie in Konflikt mit der Philologie.

Auch wenn die Philologie die Spuren der Vergangenheit kritisch untersucht, bleibt sie dennoch auf diese angewiesen. Indem sie die Tradition nach ihrer Gültigkeit befragt, bleibt sie zugleich von ihr abhängig. Sie überliefert Inhalte, indem sie das Medium kritisiert, das diese vermittelt. Mit der Philologie geht also die Wunschvorstellung von einem unmittelbaren Zugang zu den Gedanken der Vergangenheit verloren. Gleichzeitig bietet sie aber den einzigen mittelbaren Zugang zur alten Welt, da sie die überlieferten Texte erst ediert bzw. übersetzt und kommentiert. Damit versteht sie sich einerseits als Bruch und andererseits als Brücke zur Tradition. Die wissenschaftliche Revolution des XVII. Jahrhunderts hingegen — so vorsichtig man auch immer mit einer solch pauschalen Vorstellung umgehen sollte — wird ausdrücklich den Bruch und den Neuanfang vorziehen. Wenig Wissen erwarten Descartes, Malebranche, Locke und Kant von der Seite der Gelehrten. Die cognitio ex datis ist ihnen ipso facto zweitrangig.

Dieser Streit zweier Wissensmodelle ist bestimmend für die Behauptung der kritischen Idee, die sich mit der Frühaufklärung allgemein verbreitet. So prägt die Philologie den Wortschatz der Philosophen, von Spinozas emendatio intellectus bis zu Kants Kritik der Vernunft. Das Ziel dieser Tagung soll eine bessere Kenntnis dieser Spannung vermitteln, deren Bedeutung inzwischen verlorengegangen bzw. aus dem Blickfeld geraten ist zugunsten einer Geschichtsschreibung, die einseitig den Siegeszug der modernen Philosophie bzw. Naturphilosophie betont. Wenn Philologen sich mit philosophischen Texten beschäftigen, oder umgekehrt, wenn sie aus den exegetischen Regeln eine Methode bzw. eine Methodik entwickeln, legen sie auch den Grund für eine neue, rein philosophische Reflexion über das Wissen und seine Ordnung.

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Programm

Donnerstag 20.07, 14.30 Diskussionsleitung Jan-Dirk Müller

F. Mariani Zini (AvH München/Lille)
D. Thouard (CNRS/SFB)
F. Vollhardt (LMU/SFB)
Einleitung
F. Mariani Zini (AvH München, Lille)
Das Erbe der humanistischen Philologie
E. Keßler (LMU, SFB)
Philologische Methode und Naturwissenschaft
C. Blackwell (ISIH, London)
The criticism of the metaphor and the development of inductive reasoning — Zimara, Pererius and Zabarella

Freitag 21.07, 9.00 Diskussionsleitung André Laks

P. Lardet (IRHT, Paris)
La philologie, science ou art? Notes sur l'emendatio à la Renaissance
K. Vanek (Düsseldorf)
Methodologien der Textkritik und die Philologie im 16. Jahrhundert
H. Parenty (INSA, Lyon)
Philologie et philosophie chez Isaac Casaubon

Freitag 21.07, 16.00 Diskussionsleitung Roland Kany

Ort: Historicum, Raum 001

Ralph Häfner (Berlin, FU)
Der Heliozentrismus zwischen Idololatrie und Libertinage érudit. Lucas Holstenius und die neue Astronomie am Hofe Papst Urbans VIII. Barberini
E. Bury (Université de Versailles)
La preuve philologique comme argument: Gassendi et Epicure face à la révolution scientifique (1624—1658)

Freitag, 21.07, 19.15 Empfang an dem Institut Français, Kaulbachstr. 13

Samstag 22.07, 9.00 Diskussionsleitung Friedrich Vollhardt

A. Syndikus (LMU, SFB)
Universalismus und Philologie. Gabriel Naudés enzyklopädische Schriften und ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum
N. Piqué (ENS Lyon)
Du texte de l'origine à l'origine du texte. La querelle entre Richard Simon et Jean Le Clerc
M. Mulsow (Rutgers University)
Philologische Annäherungen an die antike Philosophie und Religion: Johann Christoph Wolf liest Cudworth
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