Die kulturelle Signifikanz der deutschsprachigen Erzählliteratur von der Mitte des 16. bis in die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts hinein ist immer noch eigentümlich unterbestimmt: Zwischen der riskanten ersten Phase des Einsetzens volkssprachiger gedruckter Literatur einerseits und den markanteren Innovationen der 'Barock-Poetik' andererseits tendiert die Literaturgeschichte dazu, das ästhetisch für zweitrangig Erachtete zuvorderst als Konsequenz und Symptom ökonomischer und sozialer Entwicklungen zu erklären, das erkennbar Innovative (Wickram, Fischart) dagegen vor allem in seiner (eventuell antizipatorischen) Besonderheit zu beschreiben. Um über solche und ähnlich ungleichmäßige Beobachtungseinstellungen hinaus das volkssprachige Erzählen dieser 'Zwischenzeit' literarhistorisch besser in den Blick zu bekommen, könnte es sich lohnen, zunächst noch einmal konzentrierter den synchronen Zusammenhängen der Texte und ihrer Einbettung in die Diskursgefüge der Zeit nachzugehen.
Von diesen Überlegungen ausgehend zielt die Konzeption des Kolloquiums darauf, verschiedene Diskursbereiche und Erzähltraditionen zusammenzusehen und so ein differenzielles Spektrum der narrativen Formen, ihrer Bedingungen und Funktionen in einer bestimmten kulturellen Situation zu entwerfen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage, inwiefern sich Erzähltexte im Rahmen solcher epistemischer Konstellationen als Effekte, Verarbeitungen oder Reflexionen frühneuzeitlicher Pluralisierungsprozesse begreifen lassen.
Das sich daraus ergebende Erkenntnisinteresse des Kolloquiums könnte in den Referaten auf drei — möglichst in 'dichter' Beschreibung zu verknüpfenden — Beobachtungsebenen verfolgt werden:
1. Textuelle Strukturen und Erzählformen
Erzählerische Inkonsistenzen, Widersprüche und Überschüsse mögen als Symptom ungelöster Spannungen zwischen Vor- und Frühmodernem oder schlicht als handwerklicher Mangel verstanden werden. Allerdings ist dabei der historische Wandel narrativer Sinnstiftungsmodi nicht immer zureichend mitbedacht. Unter diesem Aspekt wäre beispielsweise folgendes neu zu überprüfen: In welchen semantischen Relationen stehen narrative Strukturen zu nicht-narrativen Ordnungen wie etwa repetitiven Mustern, Katalogen oder paradigmatischen Reihen? Welches Gewicht hat der Erzählsinn gegenüber deskriptiven oder argumentativen Einschüben? Unter welchen Voraussetzungen kann der 'Verwilderung' konventioneller Strukturmuster, der erzählerischen Exposition von Kontingenz und anderen Phänomenen der Auflösung textueller Ordnungen eine sinnstiftende Funktion zuerkannt werden? Auf der anderen Seite: Wie verändern sich die Techniken narrativer Kohärenzbildung in dieser Zeit und welchen Einfluss hat dies auf die Rezeption der Texte?
2. (Inter)diskursive Konstellationen und Wissensformen
In engem Bezug auf die Strukturen der textuellen Ebene wäre nach der epistemischen Funktionalität volkssprachiger Erzählliteratur zu fragen. Das betrifft nicht nur ihre Beziehungen zum gelehrten Wissen der Theologie, des Rechts und der Medizin (z.B. Fischart) wie zu geographischen, anthropoogischen (z.B. genealogischen wie in den Romanen Elisabeths) und naturkundlichen (z.B. Faustbuch), ökonomischen (z.B. Fortunatus, Schwänke) oder politischen Diskursen (z.B. Karlsepik). Es betrifft in gleicher Weise die Artikulationen eines kollektiven und praktischen Wissens um kulturelle 'Selbstverständlichkeiten' im 'niederen' Erzählen. Zu beachten wären dabei imitierende Annäherungen an gelehrte Diskurse ebenso wie unterschiedliche Bewegungen der Distanznahme, narrative Verfahren der Konfrontation zwischen heteronomen Diskursformationen ebenso wie zwischen gelehrten Diskursen einerseits und 'Alltagswissen' oder 'Handlungswissen' andererseits — und schließlich auch Inszenierungen der Gefährdung oder sogar der Aufhebung diskursiver Ordnung durch Gegenkräfte der Körperlichkeit, des Komischen, Monströsen und Absurden, aber auch des Magischen und Heiligen. Inwieweit können volkssprachigem Erzählen in solchen Konstellationen Funktionen der Speicherung, der Reproduktion und Bearbeitung von Wissen zukommen, welche über die bloß 'passive' Aufnahme diskursiver Segmente hinausgehen? Kann Heterogenes und Disparates in den Erzähltexten als textueller Effekt diskursiver Spannungen — unter Umständen sogar als Resonanz auf den epochalen Wandel der frühneuzeitlichen Episteme, insbesondere auf Prozesse der Pluralisierung — verstanden werden? Welcher Zusammenhang besteht dabei zur Ausdifferenzierung und Etablierung spezifisch literarischer Erfahrungs- und Erkenntnisweisen?
3. Geltungsansprüche und Autorisierungsstrategien
Die dritte Beobachtungsebene schließt hier an: Wie können volkssprachige Erzähltexte ihre Position im Diskursgefüge sichern? Welche Rolle spielen dabei institutionelle Legitimierungen? Zwischen der parasitären Nutzung bestehender Geltungsfonds und der Ausrichtung an konventionellen Zwecken einerseits sowie den extremen Optionen der "Autorität des Nichtigen" im 'niederen' Erzählen und der Selbstautorisierung 'hoher' Literatur andererseits scheint sich ein Spielraum für unterschiedliche Geltungsbehauptungen und -verhandlungen auszubilden. Könnte dies als Prozess einer Pluralisierung beschrieben werden, durch die Autoritäten nicht einfach abgebaut, sondern auf komplexe Weise umverteilt werden? Wie verändern sich geltende Legitimierungsstrategien, z.B. jene der Autorisierung und Legitimierung über Genealogie? Welche einschlägigen Strategien lassen sich auf verschiedenen Textniveaus, in expliziten Argumentationen, aber auch im Bereich der Paratexte ausmachen? Sich wandelnde Akzentuierungen, welche auf Stabilisierungen oder Anpassungen von Geltungsansprüchen hinweisen könnten, wären etwa auch an Veränderungen in der Auflagenfolge, in Bearbeitungen, Nachahmungen und Fortsetzungen eines Werks, an thematischen und terminologischen Verschiebungen in Titulierungen, Vorreden und auktorialen Reflexionen aufzusuchen. Und nicht zuletzt müssten solche Strategien literarischer Selbstautorisierung mit Zeugnissen der Rezeption und der Reaktion von 'äußeren' (etwa humanistischen oder obrigkeitlichen) Standpunkten aus konfrontiert werden, um die pragmatischen Grenzen einer im Erzählen behaupteten "Autorität der Form" abschätzen zu können.