Das Syntagma des Pikaresken

Ein Kolloquium zum deutschen pikarischen Erzählen vor Grimmelshausen

15.–17. Oktober 2009

Center for Advanced Studies der LMU München
Seestraße 13, 80802 München

Kolloquium des Teilprojekts B 6 (Dr. Jan Mohr / Prof. Dr. Peter Strohschneider / Dr. Michael Waltenberger)



Exposé

Das Pikareske gilt — neben dem Faustischen — gemeinhin als eine der wichtigsten ästhetischen Artikulationen eines europäischen neuzeitlichen Bewußtseins. Der Figurentypus des Pikaro erscheint dabei nicht so sehr als eine Variante des mythischen Trickster, sondern eher als dessen Antipode unter den konträren Bedingungen moderner Rationalität. In diesem Sinne geht die aktuelle literaturwissenschaftliche Wahrnehmung pikarischer Texte vorwiegend von der fundamentalen transhistorischen Kontinuität eines von Anbeginn mit einem festen semantischen Potential besetzten strukturellen Substrats aus: Mit der gattungsbegründenden, ja den modernen Roman überhaupt generierenden "Initialzündung" des Lazarillo (M. Bauer) setze sogleich ein repräsentatives "kulturelles Paradigma der Neuzeit" ein, welches sich bis zur Gegenwart hin in immer neuen Transformationen wiedererkennbar entfalte. Unter der Annahme eines solchen kulturhistorischen "Paradigmas des Pikaresken" (Chr. Ehland / R. Fajen) können auf produktive Weise nationalphilologische Grenzmarken komparatistisch überschritten, die engeren Raster von Motiv-, Stoff- und Gattungsgeschichten erweitert und schlichte Thesen von der mimetischen Annäherung der Literatur an eine existenzielle und soziale Realität überwunden werden.
Veranschlagt man aber eine kulturhistorische Kontinuität vom Lazarillo über Felix Krull bis etwa zu den Filmen Michael Moores, dann erscheinen bereits die Erzählstrukturen der frühneuzeitlichen Texte mehr oder weniger selbstverständlich von neuzeitlichen Grunddifferenzen determiniert — besonders denjenigen zwischen Subjektivität und Objektivität und zwischen Individuum und Gesellschaft. Daß jedoch die semantischen und diskursiven Charakteristika eines vormodernen seriell-episodischen Erzählens, von denen die pikaresken Romane in weiten Teilen geprägt sind, schon durch die Kombination mit (auto)biographischem Schema und Ich-Instanz mit einem Male und umstandslos in Ausdrucksfunktionen des modernen Bewußtseins umgeschlagen seien, ist kaum plausibel. Um es zuzuspitzen: Die Mannigfaltigkeiten und Diskontinuitäten, die das episodische Erzählen produziert, können nicht 1554 mit dem Erscheinen des Lazarillo ohne weiteres als Phänomene einer modernen Welterfahrung wahrgenommen werden, welche gerade die Identität des erfahrenden Ichs und seine Subjektivität der Welt gegenüber bereits voraussetzt. Ohnehin sind oberflächentextuell manifeste Stabilisierungen einer Einheit des autobiographischen Ichs gattungsgeschichtlich erst relativ spät zu beobachten. Mindestens ebenso relevant sind zunächst eher gegenläufige Tendenzen der Steigerung serieller Diskontinuität: Darauf deuten insbesondere die Fortsetzbarkeit der episodischen Reihen (Lazarillo-Fortsetzungen und Bearbeitungen in Spanien, Frankreich, Italien, Deutschland; Frewdenholds Fortsetzung des Gusman), die Konkurrenzen des autobiographisch erzählenden Ichs mit 'objektiven' Autorisierungen eingeschalteter deskriptiver Wissensbestände sowie die bewußten Doppelungen und Vervielfachungen der Erzählebenen und textuellen Instanzen (Guzmán, Justina).
Im Rahmen des Kolloquiums werden interpretative Zugänge versucht, die nicht ein transhistorisches Paradigma voraussetzen, sondern sich in erster Linie den syntagmatischen Konstruktionen pikaresker Romane und ihrer text- und erzählgeschichtlichen Historizität zuwenden. Fokussiert werden unter diesem Aspekt jene Texte, mit denen das Erzählmodell vor dem Erscheinen von Grimmelshausens Simplicissimus (1668) durch Adaptationen romanischer Prätexte in die deutschsprachige Literatur eingeführt wird (siehe den Korpus-Überblick im Anhang). Grundlage der Diskussionen bilden eingehende Analysen der Texte und ihrer synchronen literarischen und diskursiven Kontexte. Unter Umständen können dabei historisierende Revisionen fundierender narratologischer Konzepte notwendig werden; dies betrifft insbesondere Spannungen und Wechselverhältnisse zwischen episodischer und makrostruktureller Sinnstiftung, aber auch etwa die Relationen zwischen erzählendem und erzähltem Ich oder die Funktionalisierung von Lücken und Brüchen in der episodischen Reihung.
Das Kolloquium will damit Impulse für die interpretative Erschließung eines Textfeldes liefern, dem bislang insgesamt wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, weil es entweder als epigonaler Nachhall der innovativen romanischen 'Original'-Texte oder aber als unvollkommener Vorlauf des weltliterarischen Höhepunkts der simplicianischen Werke und der Etablierung des Bildungs- und Entwicklungsromans wahrgenommen wurde.
Zentrale Bedeutung im Rahmen einer solchen Neuerschließung kommt insbesondere dem Problem der narrativen Verschaltung von Providenz und Kontingenz zu; daneben sind vor allem sensible Analysen der Raumsemantik in Bezug auf den Status des Helden sowie des Verhältnisses von Ich-Erzählung und Perspektivierung notwendig: Inwiefern unterscheidet sich — nicht motivisch, sondern hinsichtlich der narrativen Strukturen — der episodische Weg des pikarischen Protagonisten von demjenigen eines höfisch-ritterlichen Helden? Wie hebt sich strukturell seine marginale Situierung von heroischer Exzeptionalität ab? Wie kann er zum Zentrum einer sich um sein Handeln und Erleben herum konstituierenden Erzählwelt werden? Vor der Kontrastfolie einer heroisch-unreflektierten Einheit aus Status und Situation könnten die Beobachterrolle des Pikaro und seine "Kompetenz der Fremddeutung" (H. U. Gumbrecht) neu in den Blick genommen werden. Und im Vergleich zur heroischen Ununterscheidbarkeit von Handeln und Widerfahren wäre nach den paradigmatischen Regelmäßigkeiten in den Wechselfällen von gelingendem Listhandeln, pas­siver Beobachtung, gewaltsamen Widerfahrnissen und scheiternden Aktionen zu fragen. Von der narrativen Faktur her läßt sich damit auch jener paradoxe Konnex zwischen Authentizitäts- und Subjektivitätsanspruch besser begreifen, der als Signum des ‚niederen‘ Romans im 17. Jahrhundert gelten kann (W. Voßkamp).
Selbstverständlich müssen daneben für den interpretativen Zugriff rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge berücksichtigt werden, zu deren Rekonstruktion in neuerer Zeit vor allem A. Martino wichtige Grundlagenarbeit geleistet hat. Solche Perspektiven dürfen freilich nicht primär auf genealogische Ableitungen, auf das Ausmessen der Entfernung oder Nähe zu einem mustergültigen ‚Original‘ oder gar auf dadurch begründete ästhetische Werturteile ausgerichtet sein. Vielmehr sind auf der Basis der empirischen Vermittlungsverhältnisse differenzierte strukturanalytische Vergleiche zu leisten, um das Varianzspektrum des Erzählmodells zu erkunden. Die rezeptive Mittelbarkeit der deutschen Texte zu ihren innovativen spanischen und französischen Vorläufern stellt dabei für das Erkenntnisinteresse des Kolloquiums zumindest keinen Nachteil dar. Es könnte sich im Gegenteil erweisen, daß sich den strukturellen Verschiebungen und Umbesetzungen entlang der Rezeptionsprozesse einige Hinweise auf epistemisch tiefer greifende Bedingungen und Potentiale des Erzählmodells entnehmen lassen, die durch konkrete ereignis- und sozialhistorische Anbindungen — bzw. durch streng nationalphilologisch gerahmte Kontextualisierungen — womöglich verdeckt bleiben.
Ausgehend von der schärferen Konturierung eines historischen "Syntagmas des Pikaresken" können schließlich Fragen nach den epistemischen Leistungen dieser Literatur neu und anders gestellt werden. Eine Arbeitshypothese dazu mag folgendermaßen lauten: Pikarisches Erzählen läuft nicht stets und unbedingt auf Entscheidungen von in der Handlung ausgetragenen Geltungskonflikten zu, sondern kann sie gerade aufschieben, aussetzen oder als unentscheidbar stabilisieren. Symptomatisch vor dem Hintergrund der epochalen Umbrüche der Frühen Neuzeit wären solche narrativ profilierten, spannungsstabilisierenden ‚Figuren des Dritten‘, insofern in ihnen Prozesse der Pluralisierung grundlegender ethischer, sozialer und kultureller Orientierungen im Zustand ihrer disparat-ungelösten — oder auch indifferent-entschärften — Offenheit imaginiert werden können.

Programm

Donnerstag, 15. Oktober 2009

15:30
Begrüßung und Einführung
16:00
ROBERT FOLGER (Utrecht)
"Quevedos Buscón, das nackte Leben und der Grund pikaresken Erzählens im frühneuzeitlichen Spanien"
17:00
Matthias Bauer (Flensburg)
"Das Sagbare umschreiben: am Beispiel des Guzmán. Reversionen einer Konversion"
18:00
Kaffeepause
19:00
Abendvortrag
Hans Gerd Rötzer (Nürnberg)
"Geschlossene oder offene Form? — Cervantes und die Pikareske"

Freitag, 16. Oktober 2009

09:00
FRANZISKA KÜENZLEN (Münster)
"Kommentierung — Übersetzung — Neuschöpfung. Apuleius-Rezeption zwischen wissenschaftlichen und erzählerischen Interessen"
10:00
KLAUS KIPF (München)
"Episodizität und Makronarration. Überlegungen zur Struktur der ältesten deutsche Pikaro-Romane (Aegidius Albertinus, Lazarillo, dt. 1617) und einiger Schwankromane (Eulenspiegel, Peter Lew, Lalebuch)"
11:00
Kaffeepause
11:30
Jan Mohr (München)
"Buscón zweisprachig. Zur deutschen Adaptation von 1671"
12:30
Mittagspause
15:00
CAROLINE EMMELIUS (Göttingen)
"Das Ich und seine Geschichte(n). Narrative Syntagmen in der mittelalterlichen Ich-Erzählung, der Novellistik und im deutschen Lazaril von Tormes (1614)"
15:30
MICHAEL WALTENBERGER (München)
"Serialität und paradigmatische Strukturen in den Fortsetzungen des Lazarillo (La segunda parte, Juan de Luna und Paul Küefuß)"
16:30
Kaffeepause
17:00
Carolin Struwe (München)
"Die widerspenstige Feder — Überlegungen zu den drei Erzähleingängen der Iustina Dietzin Picara"
18:00
CHRISTA HAESELI (Utrecht)
"Die Picara Justina als unzuverlässige Erzählerin? Zur Problematik einer narratologischen Kategorie"
19:00
Gemeinsames Abendessen im Georgenhof

Samstag, 17. Oktober 2009

09:30
Udo Friedrich (Göttingen)
"Metapher und Narrativ. Zur Funktion der Fortuna in Hieronymus Dürers Lauf der Welt"
10:30
Magnus Ressel / Cornel Zwierlein (Bochum)
"Schläue und Torheit in frühneuzeitlichen Ego-Dokumenten (Kriegstagebücher, Gefangenschaftsberichte) und im pikaresken Roman (Hieronymus Dürer)"
11:30
Kaffeepause
12:00
Schlußdiskussion
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