Religiöser Nonkonformismus und
frühneuzeitliche Gelehrtenkultur
Akademische Netzwerke und Formen
praktizierter Toleranz

1. – 4. Dezember 2010
Kardinal Wendel-Haus München,
Mandlsstraße 23, 80802 München

Tagung des Teilprojekts B 7



Exposé

Im Zeitalter der Reformation entstehen im Rahmen des Prozesses der religiösen Pluralisierung neben der katholischen und der sich neu konstituierenden protestantischen Orthodoxie diverse nonkonforme religiöse Strömungen; insbesondere sind hier die Vertreter der sogenannten Radikalreformation zu nennen, wie Spiritualisten, Schwärmer, Täufer und Antitrinitarier. Die Anhänger dieser verschiedenen heterodoxen Bewegungen entwickeln Strategien, die es ermöglichen, dem Anpassungszwang der kirchlichen Autoritäten auszuweichen. Dabei entstehen unabhängig von den Institutionen der Orthodoxien eigenständige Formationen.
     1615 löste die Entdeckung einer antitrinitarisch-sozinianischen Gruppierung an der Nürnberger Akademie zu Altdorf umfangreiche Ermittlungen der lokalen Obrigkeit aus, die mit der Flucht beziehungsweise Bestrafung mehrerer Beteiligter endeten. Zwei Altdorfer Studenten wurden als Rädelsführer ausgemacht, inhaftiert und zu öffentlicher Revokation genötigt. Zunächst waren körperliche Strafen erwogen worden; dann aber entschied man sich für eine vergleichsweise nachsichtige Behandlung der Beteiligten. Die Nürnberger Obrigkeit zielte im konfessionspolitischen Spannungsfeld, in dem Nürnberg als freie protestantische Reichsstadt einerseits und als kaisertreuer Teil des Heiligen Römischen Reichs andererseits stand, vor allem auf die Wahrung des guten Rufs der noch nicht zur Volluniversität erhobenen Semiuniversitas.
     Die Zentralfigur in der Geschichte des religiösen Nonkonformismus an der Akademie zu Altdorf ist der Medizin- und Philosophieprofessor Ernst Soner (1573—1612). Soner studierte zunächst in Altdorf unter Philipp Scherbe und Nikolaus Taurellus. Seine anschließende peregrinatio academica führte ihn nach Padua, wo er Cesare Cremonini (1550—1631) begegnete.
     Mit diesem damals berühmten Professor kam nicht nur Soner, sondern auch Gabriel Naudé (1600—1653) in Berührung. Dieser charakterisierte Cremonini als Atheisten, der Dissimulation betrieb ("Cremonin cachoit finement son jeu en Italie "). Nach Naudés Einschätzung war der Paduaner aber keineswegs ein Einzelfall: "Tous les Professeurs de ce païs-là, mais principalement ceux de Padoüe sont gens déniaisez, d'autant qu'étant parvenus au faîte de la science, ils doivent être détrompez des erreurs vulgaires des siècles […]." Neben theologisch anstößigen (epistemologisch jedoch bedeutenden) Ausformungen des Aristotelismus, wie sie in Padua vertreten wurden, lernte Soner während seiner Reisen auch den Antitrinitarismus kennen, den er später als akademischer Lehrer an seiner Altdorfer Heimatuniversität unter den Studenten verbreitete.

Anders als beispielsweise die französischen esprits forts (zu denen auch Naudé zählte) oder gewisse italienische Gelehrte, die ihre persönlichen Überzeugungen nur im Kreis elitärer ‚Eingeweihter' offenbarten, suchte Soner seine Einstellung offenbar weniger zu verbergen — eine Haltung, deren Funktion und Motivation unter anderem vor dem Hintergrund der Nikodemismusforschung (Carlo Ginzburg) und unter wissenssoziologischen Gesichtspunkten zu untersuchen ist: Zwar vermied Soner es, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen oder gar Anstoß zu erregen; mit Rücksicht auf die eigene Stellung testete er lediglich vorsichtig die Grenzen des dogmatisch und sozial Anerkannten aus. Gleichwohl vermittelte er im Rahmen seiner akademischen Lehrtätigkeit und seiner Schriften heterodoxes Gedankengut an seine Studenten, suchte eine größere Anhängerschaft zu gewinnen, Netzwerke zu bilden und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen.
     Von besonderem Interesse für das SFB-Teilprojekt sind die Strategien, die es den Beteiligten ermöglichten, das Gegen- und Nebeneinander ihrer religiösen (Nicht-) Zugehörigkeiten zu rechtfertigen und in einem antagonistischen Zusammenspiel provisorische Lösungen auszuhandeln.
     Wie sich am Beispiel Altdorfs, aber auch Paduas zeigt, ist der religiöse Nonkonformismus in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur ein vielgestaltiges Gesamtphänomen, das sowohl Differenzen als auch Analogien und Zusammenhänge sichtbar werden lässt.
     Von Interesse ist überdies, wie problematisches Gedankengut camoufliert wird und durch welche textuellen und handlungspraktischen Taktiken Räume der Unaufmerksamkeit beziehungsweise Spielräume der Toleranz ausgenutzt werden. – Lassen sich Prozesse des Aushandelns von Kompromissen, der Vergleichgültigung konträrer Positionen oder Versuche der Entschärfung konflikthaltiger Strukturen und Situationen beobachten? Über welche Wege und Medien zirkulierte subversives Gedankengut? Nach welchen Affinitäten bildeten sich Netzwerke? Und: Welche Strategien (Kommunikationsformen, Nikodemismus, Dissimulation, Ambivalenz, textuelle Kodierung etc.) wurden entwickelt, um dem Anpassungsdruck durch die säkulare und kirchliche Autorität zu entgehen und sich im Schatten der Obrigkeit auszutauschen?

Die geplante Tagung soll ein breites Spektrum von Forschungsperspektiven zur religiösen Pluralisierung im Milieu akademischer Institutionen der Frühen Neuzeit auffächern. Zu fragen ist nach den intellektuellen Voraussetzungen und soziokulturellen beziehungsweise (religions-) politischen Rahmenbedingungen, welche die Genese dissidenter Ideen sowie ihre Verbreitung im akademischen Umfeld bestimmen.

Programm

Mittwoch, 1. Dezember 2010


Anreise
19.30
Einladung in die Gastwirtschaft "Osterwaldgarten"
(Keferstr. 12/ Lageplan liegt bei)

Donnerstag, 2. Dezember 2010

09.00—09.15
Friedrich Vollhardt / Martin Schmeisser
Begrüßung und Eröffnung
I. Europäische Formationen und Strömungen

Moderation: Thomas Borgstedt
09.15—10.00
Thomas Kaufmann
Deviante Intellektuelle in der frühreformatorischen Bewegung (Karlstadt, Müntzer, Stübner)
10.00—10.45
Barbara Mahlmann
Sebastian Castellios Basler Netzwerke. Mit einem Vorschlag zur Typologie religiöser Non-Konformisten
10.45—11.15
Kaffeepause
11.15—12.00
Wolfgang Mährle
Orthodoxie und Heterodoxie in der Istoria civile del Regno di Napoli von Pietro Giannone
12.00—12.45
Jean-Pierre Cavaillé
The myth of the mythic atheism of the Italian academics. The Gabriel Naude’s confidences to Guy Patin, 12 and 19 March 1642
12.45—14.30
Mittagspause
II. Konstellationen, Netzwerke und Kommunikationsformen

Moderation: Barbara Stollberg-Rilinger
14.30—15.15
Andreas Mahler
Netzwerke, Konstellationen, intellektuelle Denkräume. John Donne und die Inns of Court
15.15—16.00
Martin Mulsow
Adam Neuser im Kontext der Heidelberger Gelehrtennetzwerke
16.00—16.30
Kaffeepause
16.30—17.15
Kestutis Daugirdas
Kommunikationsstrategien der Remonstranten und Sozinianer vor und nach der Dordrechter Synode (1618/19)
17.15—18.00
Martin Schmeisser
Martin Ruarus – eine Zentralfigur des Altdorfer Antitrinitarismus
18.00—18.45
Dietrich Klein
Andreas Dudith und die Breslauer Gelehrten: Naturwissenschaft und rationalistische Dogmenkritik

Freitag, 3. Dezember 2010


III. Theologie und szientifischer Rationalismus

Moderation: Gerhard Regn
09.00—09.45
Cecilia Muratori
"Inter hominem & bruta nulla est similitudo" — Die Bestimmung der Grenze zwischen Mensch und Tier in De statu primi hominis ante lapsum disputatio, quam Faustus Socinus Senensis per scripte habuit cum Francisco Puccio Florentino, anno 1578
09.45—10.30
Hermann Stockinger
Der Mediziner Johann Marcus Marci von Kronland (1595—1667). Esoterik an der Prager Karlsuniversität
10.30—11.00
Kaffeepause
11.00—11.45
Anita Traninger
Disputative, non assertive posita. Zum Aussagestatus disputatorischer Thesen
11.45—12.30
Hanspeter Marti
Theologische Altdorfer Disputationen und ihre Rolle im Sozinianismusstreit
12.30—14.00
Mittagspause
IV. Wissenschaftliche Debatten und Dogmenkritik in der Ära der »New Science«

Moderation: Frieder von Ammon
14.00—14.45
Günter Frank
Ernst Soners Kritik am Trinitätsdogma – Strategien zur Legitimierung trinitätstheologischer Heterodoxie
14.45—15.15
Friedrich Vollhardt
Ernst Soners Demonstratio theologica im (weiteren) Kontext
15.15—16.00
Wilhelm Schmidt-Biggemann
Kabbala gegen Sozinianismus. Der Streit Stephan Rittangels mit Jonas von Schlichting
16.00—16.30
Kaffeepause
Moderation: Thomas Ricklin
16.30—17.15
Walter Sparn
Die aristotelische Metaphysik als Katalysator des Altdorfer Antitrinitarismus
17.15—17.45
Udo Roth
Die Cambridge-Platonists: Philosophie und Heterodoxie
17.45—18.30
Gideon Stiening
Isaac Newton als Theologe und Dissident

Samstag, 4. Dezember 2010


V. Vom Umgang mit Dissidenten und Provokateuren

Moderation: Ralph Häfner
09.00—9.45
Jan Rohls
Der Fall Konrad Vorstius
09.45—10.30
Leigh Penman
"Wie erkennen wir einen Chiliasten?" Die Orthodoxie und Heterodoxie in den lutherischen Debatten um den ‚Chiliasmus‘, 1603—1623
10.30—11.00
Kaffeepause
11.00—11.45
Wilhelm Kühlmann
Endzeit und Elias Artista — Signaturen des paracelsistischen Dissidentismus
11.45—12.30
Sascha Salatowsky
Dürfen Sozinianer geduldet werden? Obrigkeitliche und Theologische Debatten in der Mark Brandenburg

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