In der konzeptionell anspruchsvollen, von David Wellbery, Hans Ulrich Gumbrecht u. a. herausgegebenen New History of German Literature (2004) wird in einem eigenen Kapitel der Görlitzer Autor Jakob Böhme porträtiert, "who came to produce a body of work of enormous intellectual abundance and impressive eccentricity [...]. The influence his work exercised in both longevity and breath is amazing." Hier wie in vergleichbaren Handbuchartikeln wird neben den Schriften, die viele Fächer berühren (Literatur-, Religions- und Wissenschaftsgeschichte, Theologie, Philosophie), stets auch die gesamteuropäische Rezeption erwähnt, und dies nicht ohne Grund: Es handelt sich um eine immense Wirkungsgeschichte, die vom 17. Jahrhundert bis weit in das 20. Jahrhundert, ja bis in die Gegenwart reicht. Die Geschichte dieser Wirkung ist noch kaum erforscht, obwohl der Kirchenhistoriker Ernst Benz sie bereits in den 1950er Jahren zu den "anregendsten und aufregendsten Kapitel der abendländischen Geistesgeschichte" rechnete.
Bislang existieren hierzu jedoch nur verstreute Einzelstudien, an deren Ergebnisse sich anknüpfen läßt, die eine umfassende Darstellung aber nicht ersetzen können. Da eine solche diachrone Synopse von einem einzelnen Wissenschaftler nicht erstellt werden kann, wird die internationale Tagung verschiedene Disziplinen und methodische Ansätze zusammenführen, das reiche Quellenmaterial vorstellen und auswerten und damit erstmals die Grundlage für eine intensivere und weiter ausgreifende Forschung schaffen. Ausgangspunkt ist die bekannte Tatsache, daß die Schriften des Görlitzer Theosophen bereits zu dessen Lebzeiten äußerst kontrovers diskutiert wurden, wobei hier wie in der Folgezeit das Verhältnis von Erkenntnisanspruch und Beschreibungsmodus ebenso umstritten blieb wie die Frage, ob sich die von Böhme entwickelten Systemgehalte auf das Religionsgespräch der Zeit um 1600 beziehen lassen oder eher der Poesie und damit einer Spielart visionärer Literatur zuzurechnen sind. Die Frage nach dem poetischen Charakter respektive dem epistemischen Ort der Schriften Böhmes hat die Aufnahme seines Werkes wesentlich bestimmt, wie noch die gründliche (und nach wie vor maßgebliche) Studie von Alexandre Koyré aus dem Jahr 1929 zeigt; für ihn ist Böhme "un des penseurs les plus énigmatiques de l'univers", bedingt vor allem durch seine sprachlichen Eigenarten: "Le langage de Boehme est un langage poétique; c'est comme tel qu'il faut le juger." Dieses entschiedene Urteil dient Koyré selbst jedoch nicht als Leitfaden für seine Untersuchung, die weniger der Sprache als der "doctrine" gewidmet ist.
Die Tagung will weder solche Forschungskontroversen zu entscheiden versuchen noch eine systematische Rekonstruktion der oft verschlüsselt erscheinenden Aussagen und Schreibverfahren vornehmen, sondern über den engeren theologisch-philosophischen Erörterungsrahmen hinaus nach den markanten Spuren fragen, die das Werk Böhmes in den Netzwerken der religiösen und literarischen Kommunikation vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis an das Ende des 18. Jahrhunderts hinterließ. Insbesondere in England hat sich früh eine Anhängerschaft gebildet, über welche sich die Kommunikation erschließen läßt, auf die hin Böhme seine Werke konzipiert hat. Es handelt sich zwar um unterschiedliche Kreise und Konstellationen, doch gibt es Verbindungen zwischen diesen Rezeptionsbewegungen, ein gemeinsames Interesse, das einen Einblick in die Pragmatik der Böhmeschen Texte verschafft, ohne die sich deren Bedeutung nicht erschließt. Richard H. Popkin hat in einem programmatischen Aufsatz diese Bewegungen als third force neben den empiristischen und rationalistischen Modellbildungen bezeichnet. Deren Vertreter — Popkin nennt Comenius, Henry More, Lady Anne Conway u.a. — sahen sich mit einem Skeptizismus konfrontiert, dem sie mit einer Kombination aus Erkenntnissen der neuen Naturforschung und theosophischen Spekulationen, einer millenaristischen Schriftdeutung und wissenschaftlichen Reformbemühungen zu begegnen suchten; die Werke Böhmes erhielten hier eine Schlüsselstellung. Zur Untersuchung dieser Zusammenhänge erscheint die zeitliche Eingrenzung als zwingend, da mit dem deutschen Idealismus (Schelling, Hegel) und der Literatur der Romantik in Europa eine neue Rezeptionsstufe erreicht ist, die eine eigene Betrachtung verdient.
Bei der Tagung wird es einerseits um eine Bilanzierung und Standortbestimmung der verschiedenen Forschungsansätze gehen, und andererseits — im Zusammenhang mit den Forschungen des SFB-Teilprojekts B 7 zu religiösen Dissidenten um 1600 — um Überlegungen, welche die gesamte Epoche übergreifen und Leitlinien einer künftigen literatur-, theologie- und philosophiegeschichtlichen Forschung zur religiösen Pluralisierung und Dissidenz in der Frühen Neuzeit explorieren.
Mittwoch, 21. April |
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17.00 | Begrüßung und Eröffnung | |
17.15—18.15 | Öffentlicher Abendvortrag Ferdinand van Ingen (Amsterdam): Das neue Weltraumbild und die Vorstellung vom Wohnort Gottes bei Valentin Weigel und Jakob Böhme |
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Pause | ||
18.45—19.45 | Öffentlicher Abendvortrag Wilhelm Kühlmann (Heidelberg): Vernunftdiktatur und Sprachdiktatur: Böhme bei Gottsched und Adelung |
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Donnerstag, 22. April |
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Sektion 1 | Sektion 2 | |
9.00—9.45 | Sibylle Rusterholz (Boll / CH): Jakob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger. Die zentralen Argumente der Streitschriften von ihren Anfängen zu Lebzeiten Böhmes bis zum Ende des 17. Jahrhunderts |
Joachim Telle (Heidelberg/Freiburg): Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit |
9.45—10.30 | Bo Andersson (Uppsala): Jakob Böhmes polemischer Konflikt mit Gregorius Richter |
Harald Haferland (Osnabrück): Spekulative Alchemie bei Jakob Böhme und Quirinus Kuhlmann |
Kaffeepause | ||
11.00—11.45 | Leigh Penman (Oxford): "... zugleich Böhmes Bildnis und Schüler". Towards the Life of Balthasar Walther: Alchemist, Kabbalist and Wandering Paracelsian Physician |
Christoph Bultmann (Erfurt): Kuhlmann. Untersuchung seines 'Davidisierens' und 'Böhmisierens' auf ihren biblisch-theologischen Charakter |
11.45—12.30 | Flavio Cuniberto (Perugia): Die rätselhafte Figur Balthasar Walthers im Rahmen der ersten Böhme-Rezeption |
Cornelia Rémi (München): Böhme-Rezeption in der Lyrik des 17. Jh. |
Mittagspause | ||
14.00—14.45 | Jost Eickmeyer (Heidelberg): Ein Politiker als Böhmist: Johannes Angelius Werdenhagens Psychologia vera Jacobi B[öhmii] T[eutonici]. Amsterdam 1632 (dt. 1650) |
Rosmarie Zeller (Basel): Böhme-Rezeption am Hof von Sulzbach |
14.45—15.30 | Hanspeter Marti (Engi / CH): Das Bild Jakob Böhmes im Unterricht Hoher Schulen deutschsprachiger Länder (1670—1740) |
Theodor Harmsen (Amsterdam): The Reception of Jakob Böhme's Theosophy in the Geheime Figuren der Rosenkreuzer (Secret Symbols of the Rosicrucians). The Importance of A.W. van Beyerland's Amsterdam Network |
Kaffeepause | ||
16.00—16.45 | Jan Mohr (München): Die Rezeption Jakob Böhmes im Kreis um Abraham von Franckenberg. Mit einem Blick auf Raphael oder Arzt-Engel (1639) |
Burkhard Dohm (Marburg): Böhme-Rezeption in England und deren Rückwirkung auf den frühen deutschen Pietismus: Jane Lead und das Ehepaar Petersen |
16.45—17.30 | Hermann Wiegand (Heidelberg/Mannheim): Zur Böhme-Rezeption bei Johann Theodor von Tschech |
Carlos Gilly (Amsterdam): Die frühe Rezeption der Böhme-Schriften in Deutschland |
20.00 | Gemeinsames Abendessen | |
Freitag, 23. April |
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Sektion 1 | Sektion 2 | |
9.00—9.45 | Martin Mulsow (Erfurt): Böhme-Rezeption bei Abraham Hinckelmann |
Friedrich Vollhardt (München): Das Böhme-Bild der Orthodoxie: Daniel Colberg |
9.45—10.30 | Eric Achermann (Münster): Böhme und die Cambridger Neuplatoniker |
Roland Pietsch (Frechen): Der Einfluß Jakob Böhmes auf Johann Georg Gichtel |
Kaffeepause | ||
11.00—11.45 | Ralph Häfner (Tübingen): Pierre Poirets Auseinandersetzung mit Jakob Böhme |
Wilhelm Schmidt-Biggemann (Berlin): Böhme bei Gottfried Arnold |
11.45—12.30 | Thomas Leinkauf (Münster): Leibniz und Böhme |
Lucinda Martin (Hamburg/Halle): Die Rezeption von Jakob Böhmes Sophialehre bei pietistischen Frauen |
Mittagspause | ||
14.00—14.45 | Wolfgang Riedel (Würzburg): Theosophie des Julius. Ein Schülertext am Übergang zwischen hermetischer Tradition und Idealismus |
Martin Schmeisser (München): Böhme in Frankreich. Louis Claude de Saint-Martin und die Gegenaufklärung |
14.45—15.30 | Friedemann Stengel (Halle): Theosophie in der Aufklärung: Friedrich Christoph Oetinger |
Walter Sparn (Erlangen): "...quid habendum de secta Jacobi Böhmen?" Die Unsicherheit der lutherischen Orthodoxie gegenüber der 'enthusiastischen' Theosophie |
Kaffeepause | ||
16.00—16.45 | Anselm Steiger (Hamburg): Friedrich Brecklings Stellung zu Böhme im Anti-Calovius |
Kristine Hannak (Halle): Streitbare Irenik: Zur Reflexion des Religionsstreits bei Jakob Böhme und Johann Conrad Dippel |
16.45—17.30 | Nigel Smith (Princeton): Jakob Böhme and the English Revolution |
Cecilia Muratori (München): "Tanta verborum confusione". Die Rezeption von Franckenbergs Bericht durch Arnold und Mosheim. |
Samstag, 24. April |
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Sektion 1 | Sektion 2 | |
9.00—9.45 | Günther Bonheim (Wüstenrot): Die große "Reinigung" vom "gemeinen Geiste". Zu den Umständen der Entstehung der dritten Böhme-Gesamtausgabe 1730/31 |
Gideon Stiening (München): Böhme und Wolff |
9.45—10.30 | Frank Grunert (Halle): Die Böhme-Dissertation von Christian Thomasius im Kontext |
Dirk Werle (Leipzig): Die Böhme-Rezeption in der Enzyklopädik, Philosophie- und Literärgeschichtsschreibung |
Kaffeepause | ||
11.00—11.45 | Jürgen Kaufmann (Heidelberg): Böhme und die Anfänge der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert |
Christoph Geissmar-Brandi (Hamburg/Berlin): Die Illustrationen der Jakob Böhme-Ausgaben bis 1682 und einige Vorbilder |
11.45—12.30 | Hanns Peter Neumann (Halle): Rezeption, Kritik und Transformation des Böhmismus im Leibniz-Wolffianismus des 18. Jahrhunderts |
Albert Meier (Kiel): Böhme-Spuren bei Karl Philipp Moritz |