"[N]ec evidenter iustum, […] nec evidenter iniustum"?

Francisco de Vitorias De Indis in interdisziplinärer Perspektive

09. und 10. Oktober 2009

Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ,
Kaulbachstrasse 31, 80539 München

Workshop des Teilprojekts A 10 (Prof. Dr. Norbert Brieskorn / Dr. Gideon Stiening)



Exposé

I. Einleitung


Francisco de Vitorias Vorlesung De Indis (1539)i gehört zu den ersten und zugleich wichtigsten Auseinandersetzungen der frühneuzeitlichen Wissenschaften mit der Conquista. Zu Recht hält Ulrich Horst, einer der profiliertesten Vitoria-Forscher, hinsichtlich der wissensgeschichtlichen Stellung jener Relectio fest, daß „Vitorias streng rationale Argumentation, verbunden mit einem immensen Arsenal von Autoritäten, […] nachfolgenden Theologen und Juristen Fundamente [bot], auf denen man weiterbauen konnte“.ii Dabei übersteigt sowohl das thematische Tableau als auch die disziplinäre Perspektive, die auf das zentrale Telos der Vorlesung, die Beantwortung der Frage nach der juridischen Gerechtigkeit der Eroberung der neuen Welt, zulaufen, bei weitem den unmittelbaren Anlaß, den Vitoria in einem Brief an Miguel des Arcos in emphatischer Weise benannte:

Nichts schockiert und beschämt mich mehr als die korrupten Gewinne und die Probleme in Indien. Wenn man sie erwähnt gefriert das Blut in meinen Adern.iii

Von dieser moralisch-politischen Emphase ist im Text selber dann aber wenig mehr zu verspüren. Vielmehr geht es schon zu Beginn um Grundlegungsfragen: Allein die Begründung dafür, daß die Rechtsgelehrsamkeit nicht hinreicht, um die anvisierte Problematik zu lären, ob es nämlich eine Legitimation dafür geben kann, daß man „die Kinder Ungläubiger gegen den Willen von deren Eltern“ taufen dürfe, oder gar müsse,iv zeigt die eminente Zuständigkeit der Theologiev und die über das ummittelbare Problem hinausreichende Dimensionierung der Frage. Weil Vitoria aber auch naturrechtliche Argumente vorträgt sowie die grundsätzliche Frage nach einem bellum iustum, die an den Eroberungskriegen gegen die Indianern erörtert wird, aufwirft, drängt sich darüber hinaus die gleichzeitige Zuständigkeit der Philosophie als Begründungstheorie nachgerade auf. De Indis läßt sich mithin – so eine fundierende Begründung für die Kontur des geplanten Workshops – nur in einem interdisziplinären Verbund rechtsgeschichtlicher, philosophiehistorischer und theologischer Analysen und Kontextualisierungen in seiner Gänze erfassen.

Die disziplinäre Zusammensetzung des SFB 573 Autorität und Pluralisierung bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die in der bisherigen Forschung stets nur prätendierten literar- und rhetorikgeschichtlichen sowie politik- und institutionengeschichtlichen Aspekte des Textes systematisch zu bearbeiten, so daß generell neue Perspektiven für die Forschung eröffnet werden können.


II. Begründungen und Aporien


Dabei stellt die hochkomplexe Argumentationsbewegung der Vorlesung Vitorias, die nach einer ausführlichen und heute ebenso überraschenden wie damals politisch brisanten Widerlegung zeitgenössischer Legitimationskonzeptionen der Conquista nach tatsächlich haltbaren Rechtsgründen für die kriegerische Eroberung sucht, eine entscheidende Herausforderung der inderdisziplinären Rekonstruktionsarbeit dar. Schon die Frage nach dem Verhältnis der von Vitoria aufgeführten Begründungstheorien – Theologie, Philosophie, Rechtslehre – muß ausgiebig und möglicherweise kontrovers erörtert werden: So gibt es u.a. naturrechtliche Argumente (Stichwort: Kannibalismus), die eine weltliche Herrschaft der spanischen Krone und deren gewaltsame Durchsetzung nicht legitimiert, während sie ein auch gewaltsames Eingreifen einer geistlichen Herrschaft geradezu erfordert, wobei diese Herrschaft nicht unmittelbar, sondern nur vermittelst weltlicher Herrschaft eingreifen darf. Zugleich bietet Vitoria völkerrechtliche Argumente auf, die seine staatstheoretisch konturierte Kritik an den Kriegszügen der Spanier zu konterkarieren scheinen. Was bedeutet diese genauer zu rekonstruierende Argumentation Vitorias aber für das Verhältnis der genannten Begründungtheorien? Was bedeutet sie für die bei seinen Nachfolgern kontrovers diskutierte Frage, ob der Text in angemessener Weise die Rechtlichkeit bzw. juridische Gerechtigkeit der Conquista reflektiere oder nur eine nachträgliche Legitimationsschrift für die imperialistischen Raubzüge der spanischen Krone darstellt? Ist Vitorias Kritik an spezifischen Erscheinungen der Conquista tatsächlich – wie Luciano Pereña behauptet – der Ausdruck einer ersten „Krise des spanischen Nationalbewußtseins“vi oder vielmehr deren ebenso geschickte wie aufwändige Verhinderung?


III. Zweck oder Mittel ?

Zur Stellung der Indianerproblematik im Argumentationsgefüge der Vorlesung


Neben dem spannungsreichen Verhältnis der Begründungstheorien und der Aporie zwischen den Intentionen politischer Ethik und legitimistischer Ideologie zeigt sich ein weiteres kontrastreiches Aufgabenfeld bei der Frage, welcher Status der konkreten politischen Indianerproblematik in der Systematik der Vorlesung tatsächlich zukommt. Nicht nur die in der neueren Forschung erörterte Tatsache, daß Vitoria die ganz neuzeitliche Problematik einer Legitimation der Anwendung von Gewalt gegenüber den Indianern mit antiken und mittelalterlichen Autoritäten aus Theologie, Philosophie und Juristerei zu lösen überzeugt ist (was noch auf Hugo Grotius zutrifft),vii sondern auch die ganz selbstverständliche Korrelation der Indianerfrage mit dem Verhalten christlicher Herrschaft gegenüber „Juden“ und „Sarazenen“ verweist auf die spezifische Position, aus der heraus Vitoria das politisch, wissenschaftlich und religiös drängende Problem reflektieren zu können meinte. Diese allgemeine Position ist aber in ihrer Systematik zu rekonstruieren, um die spezifische Kontur jener Autorität zu eruieren, die dem Text in den vielfältigen Kontroversen des 16. Jahrhunderts zukam. Gerade weil Vitoria nicht nur mithilfe seiner theologisch-philosophischen Grundlagenposition die Indianerfrage zu klären, sondern auch umgekehrt an der Indianerfrage allgemeine Überlegungen anzustellen bemüht ist, stehen seine Vorlesungen in den letzten Jahren im Zentrum einer die Conquista nur randständig berücksichtigenden Forschungsdebatte, die nämlich um den gerechten Krieg.viii



IV. Neue Aspekte interdisziplinärer Forschung


Neben diesen systematischen und methodologischen Überlegungen sollen weitere Perspektiven die besondere Kontur des Workshops ausmachen, so u.a. die Frage nach den Quellen, die über die philosophischen und theologischen Vorgaben hinausix auf das Feld der rechtsgeschichtlichen Vorlagen und auf die Reiseberichte ausgreifen sollen, die Vitoria offensichtlich zur Verfügung standen: auf welchem Stand des Wissens über die konkreten Ereignisse in Übersee befand sich der spanische Philosoph und Theologe, als er an der Vorlesung arbeitete? Welche Bedeutung für Form und Gehalt des Text kommt der Tatsache zu, daß er als öffentliche Vorlesung konzipiert und gehalten werden mußte und wie ließe sich diese Frage empirisch belegen? Gibt die rhetorische Kontur der Vorlesung Aufschluß über die Stellung Vitorias zu den skizzierten rationalen und empirischen Fragestellungen? Läßt sich an ausgewählten Beispielen sachlich gewichtiger Kritik (z.B. Las Casas,x de Covarrubiasxi) Semantik, Systematik und Innovativität der Position Vitorias genauer ermitteln? Können konkrete politische Auswirkungen des auch politisch intendierten Textes empirisch nachgewiesen werden?

Im Zentrum des um eine möglichst umfassende Kontextualisierung bemühten Workshops sollen die Analyse und Interpretation des einen Textes, Francisco de Vitorias De Indis, stehen. In dieser Engführung auf einen bedeutenden philosophischen Text zu einem prägenden sozial- und politikgeschichtlichen Problem des 16. Jahrhunderts sollen auch die Leistungen und Grenzen interdisziplinärer Kooperation ausgemessen werden. Vitoria hat die Komplexität seiner Haltung zur Problematik der spanischen Kriegszüge gegen die Indianer in den besetzten Gebieten in Mittel- und Südamerikas auf den Begriff gebracht, wenn er schon zu Beginn der Vorlesung festhält:

Die Sache mit den Barbaren ist weder von sich aus noch so eindeutig ungerecht, daß nicht über deren Gerechtigkeit gesprochen werden könnte, noch andererseits so eindeutig gerecht, daß man nicht nach deren Ungerechtigkeit fragen könnte, vielmehr scheint sie eine Doppelgestalt zu haben.xii

Weder ist diese scheinbare Ambivalenz auf Vitorias schwankenden Charakter zurückzuführen, noch durch Widerspruchsvermeidung zu entschärfen. Erst die Rekonstruktion der gesamten Komplexität des Gefüges von theologischen, philosophischen und juristischen Begründungstheorien, deren Stellung zu politischen, rechtsgeschichtlichen und ethnologischen Argumenten sowie der Prägung durch institutionelle, gattungsgeschichtliche und rhetorische Prämissen bzw. Vorgaben und letztlich die affirmative und kritische Rezeption kann die genau Position Vitorias in dieser und durch diese Vorlesung ermessen.

i Zitiert wird der Text dieser Vorlesungen im Folgenden nach Francisco de Vitoria: Vorlesungen (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche. Hg. Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven u. Joachim Stüben. 2 Bde, Stuttgart 1995/97, Bd. II, S. 371–541.

ii Ulrich Horst: Leben und Werke Francisco de Vitorias. In: ebd., Bd. I, S. 95.

iiiFrancisco de Vitora: Brief an Miguel de Arcos. In: ders.: Political Writings. Ed. By Anthony Padgen. Cambridge 1991, S. 321.

iv Vitoria: Vorlesungen (wie Anm. 1), Bd. II, S. 370/371.

v Ebd., S. 380ff./381ff.

vi Luciano Pereña: Die spanische Eroberung Amerikas und das europäische Denken. Die Schule von Salamanca. In: Renate Mate u. Friedrich Niewöhner (Hg.): Spanien Beitrag zum politischen Denken in Europa um 1600. Wiesbaden 1994, S. 69—79, hier S. 69.

vii Vgl. hierzu Martin van Gelderen: Hugo Grotius und die Indianer. Kulturhistorische Einordnung Amerikas und seiner Bewohner in das Weltbild der Frühen Neuzeit. In: Raimund Schulz (Hg.): Aufbruch in neue Welten und neue Zeiten. Die großen maritimen Expansionsbewegungen der Antike und Frühen Neuzeit im Vergleich. [Beihefte zur Historischen Zeitschrift NF 34), München 2003, S. 51—78.

viii Vgl. u.a. Dieter Jansen: Die Theorie des gerechten Krieges im Denken des Francisco de Vitorias. In: Frank Grunert u. Kurt Seelmann (Hg.): Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Tübingen 2001, S. 205—243; Merio Scattola: Konflikt und Erfahrung. Über den Kriegsgedanken im Horizont frühneuzeitlichen Wissens. In: Heinz-Gerhard Justenhoven u. Joachim Stüben (Hg.): Kann Krieg erlaubt sein? Eine Quellensammlung zur politischen Ethik der Spanischen Spätscholastik. Stuttgart 2006, S. 11—53.

ix Vgl. hierzu die in der Textvorlage mitgelieferten Anmerkungen der Herausgeber in Vitoria: Vorlesungen (wie Anm. 1), Bd. II, S. 728—752.

x Vgl. Bartolomé de Las Casas: Traktat über die Indiosklaverei. In: ders.: Werkauswahl. 4 Bde, hg. von Mariano Delgado, Paderborn u.a. 1996, Bd. 3/1 [Sozialethische und staatsrechtliche Schriften. Studien von Norbert Brieskorn SJ, Daniel Deckers, Mariano Delgado u. Michael Sievernich SJ.], S. 67—114.

xi Vgl. Diego de Covarrubias: De iustistia belli adversus Indos. In: Heinz-Gerhard Justenhoven u. Joachim Stüben (Hg.): Kann Krieg erlaubt sein? Eine Quellensammlung zur politischen Ethik der Spanischen Spätscholastik. Stuttgart 2006, S.174/175—210/211.

xii Vitoria: Vorlesung (wie Anm. 1), Bd. II, S. 381.

Programm

Donnerstag, 08. Oktober 2009

Anreise
 

Freitag, 09. Oktober 2009

09.00—09.30
Norbert Brieskorn / Gideon Stiening
Begrüßung und Eröffnung
I. Historische Kontexte : Ethnologie, Rhetorik und Rechtsgeschichte
Leitung: Tilman Repken (Hamburg)
09.30—10.30
Martin Schmeisser (München):
Auf dem Weg zum guten Wilden. De Indis im Kontext zeitgenössischer Reiseliteratur
10.30—11.00
Kaffeepause
11.00—12.00
Ofelia Huamanchumo (München):
Einfluss der Relectio De Indis auf die kirchliche Gesetzgebung zur indianischen Taufe.
12.00—13.00
Arndt Brendecke (München):
Das Gewissen des Königs. Sprache und Funktion vormoderner Politikberatung
13.00—14.30
Mittagspause
II. Philosophiegeschichtlicher Kontext
Leitung: Norbert Brieskorn (München)
14.30—15.30
Anselm Spindler (Frankfurt):
Francisco de Vitorias Thomas-Rezeption und ihre Wirkung auf die Relectio De Indis
15.30—16.30
Hans Burkhardt (München):
Vitoria und Thomas
16.30—17.00
Kaffeepause
III. Politische Theologie versus politische Philosophie?
Leitung: Heinz-Gerhard Justenhoven (Hamburg)
17.00—18.00
Frank Grunert (Halle):
Theologische Norm und der politische Anspruch der Kirche. Völkerrecht bei Francisco de Vitoria
18.00—19.00
Andreas Wagner (Frankfurt):
De Indis: Die Philosophie, die Politik und das internationale Recht
ab 20.00 Uhr
Gemeinsames Abendessen

Samstag, 10.Oktober 2009

09.00—10.00
Merio Scattola (Padua):
Die naturrechtliche Begründung des Kriegsrechts bei Vitoria
10.00—11.00
Gideon Stiening (München):
Nach göttlichen oder menschlichen Gesetzen? Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in De Indis
11.00—11.30
Kaffeepause
IV. De Indis in der Kritik
Leitung: Gideon Stiening (München)
11.30—12.30
Oliver Bach (München):
"At nobis contrarium videtur verum".
Luis de Molina zum ius peregrinandi bei Francisco de Vitoria. Historischer Wandel und/oder systematische Begründung?
12.30—13.30
Norbert Brieskorn (München):
Die Kritik von Las Casas an der Relectio De Indis.
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