Transformationen von Wissen
in der niederländischen Expansion

14./15. Oktober 2010
LMU München, Historicum
Schellingstr. 12, 80799 München

Tagung des Teilprojekts B 1



Exposé

Seit Langem thematisieren kultur- und wissenshistorische Forschungen den Zusammenhang von ‘Wissen’ und Expansion. Untersucht werden dabei aus unterschiedlichen Perspektiven der Erwerb, die Darstellung, die Beglaubigung, die Distribution sowie die Folgen von ‘Wissen’. Hinsichtlich der Rückwirkungen auf den europäischen Wissenshaushalt könnten die Forschungsergebnisse aber unterschiedlicher nicht sein. Einerseits wurde postuliert, dass es durch die europäische Expansion zu einer Vermehrung von Wissen und Information kam, die ihrerseits zu einer Neujustierung des europäischen Weltbildes führten, wobei klassische Autoritäten unterminiert und empirische Verfahren zur Quelle von Wissen erhoben wurden. Andererseits aber wurde festgestellt, dass die durch die Expansion möglichen Beobachtungen lange keinerlei Auswirkungen auf traditionelle Wissensbestände, -ordnungen und -praktiken zeitigten. Unseres Erachtens handelt es sich dabei um komplementäre Phänomene. Um diese besser beschreiben zu können, gilt es, die epistemischen und diskursiven Friktionen in den Blick zu nehmen, die auftreten können, wenn Wissen oder Information von einem Kontext in einen anderen übertragen wird, und gleichzeitig die zu ihrer Aufhebung angewandten Strategien der Herstellung von Anschlussfähigkeit zu analysieren. Die Tagung wird folglich an die vorliegende Forschung anknüpfen, dabei den Fokus aber auf solche Transformationen von ‘Wissen’ legen.

Problematisch erscheint, dass ein diffuser moderner Wissensbegriff den spezifischen historischen Vorgängen beim Transfer von Information und Daten zwischen verschiedenen Systemen oder Diskursformationen nicht immer gerecht wird. Dem soll mit einer radikalen Historisierung von Phänomenen des ‘Wissens’ begegnet werden, da dies den Blick für die Chancen und Probleme des Wissenstransfers im historischen Kontext öffnet. ‘Wissen’ tritt im 17. Jahrhundert vielfach mit dem Anspruch auf Wahrheit auf. Die bei seiner Beglaubigung geltenden Standards und Praktiken waren je nach Fachgebiet und philosophischer Ausrichtung aber durchaus verschieden. Folglich konkurrierten verschiedene Wissensansprüche. Zum Teil wurde bloß wahrscheinliches Wissen als ‘Wissen’ anerkannt und durch Ausblendung seiner theoretischen Unsicherheit für die Praxis erhärtet.

Vor diesem Hintergrund treten im Rahmen der niederländischen Expansion zwei eng miteinander verknüpfte Problembereiche in den Vordergrund. Zum einen handelte es sich bei den Trägern der Expansion um Handelskompanien, die ein merkantil geprägtes Verständnis von ‘nützlichem’ Wissen hatten. Daraus wiederum resultierte zum anderen ein spezifischer Begründungsrahmen für die stets diffizile Beglaubigung von ‘Wissen’ über die Distanz. Bei der Übertragung von Wissensbeständen aus dem Bereich der Kompanie in andere Kontexte ergaben sich so beinahe zwangsläufig Brüche. Die dabei auftretenden epistemischen und diskursiven Konflikte führten zu sehr komplexen Verhältnissen, die zeitgenössisch jedoch nur selten thematisiert wurden. Um die Anschlussfähigkeit an bestehendes ‘Wissen’ dennoch zu gewährleisten, waren spezielle Strategien und argumentative Figuren verlangt.

Wir wollen die Aufmerksamkeit auf solche Phänomene des Wissenstransfers und die dabei ablaufenden Prozesse der Herstellung von Anschlussfähigkeit lenken, die zugleich häufig zu einer Transformation von Wissen führten. Folgende Fragenkomplexe erscheinen dabei von besonderem Interesse:

1. Zu beobachten sind zunächst die spezifischen Schauplätze und Kontexte in denen Wissensbestände und Informationen aus den Kompanien in andere Bereiche übertragen wurden. Thematisiert werden sollen dabei insbesondere die Funktionszusammenhänge, in denen auf ‘Wissen’ aus den Kompanien zurückgegriffen wurde. Zu denken wäre hierbei an wissenschaftliche Texte und Projekte etwa im Bereich der Geographie, Landesbeschreibung, Botanik oder der Natur-, Religions- und Philosophiegeschichte. Weitere Schnittstellen bilden verlegerische Projekte und Versuche der Wissenspopularisierung oder auch Kunstkammern. Dabei geht es nicht nur um eine Beschreibung einzelner Beispiele, sondern um eine Analyse des konkreten historischen Kontextes, speziell des epistemischen und kommunikativen Settings, in dem diese zu verorten sind.

2. Einen weiteren Themenkomplex bilden die Praktiken, Strategien und Verfahren, die bei einer Übertragung von Wissensbeständen zum Einsatz kamen, um dem Problem der mangelnden Anschlussfähigkeit zu begegnen. Neben stillschweigenden Übernahmen, die Antagonismen zwischen verschiedenen Wissensansprüchen zu ignorieren scheinen, sind Versuche zu beobachten, diese Brüche mithilfe spezieller Argumentationsfiguren zu überbrücken. Hierbei wurden einerseits Anstrengungen unternommen, die Glaubwürdigkeit im konkreten Fall zu begründen, andererseits kam es zu tiefergreifenden methodischen Überlegungen. Eng damit verbunden ist die Frage, welche Bestände integriert werden konnten und welche gerade nicht. So ist z.B. hinsichtlich von Reiseberichten oder Kunstkammerstücken schnell eine Kanonbildung zu beobachten, die in Richtung einer Abschließung und Normierung wirkte.

Neben Fallbeispielen sind hier auch Überlegungen dazu erwünscht, wie diese strukturell eher unauffälligen Phänomene methodisch adäquat beschrieben und analysiert werden können.

3. Durch eine neue Kontextualisierung wurden Wissensbestände Wissensordnungen unterworfen, denen sie ursprünglich nicht entstammten. Besonders deutlich wird dies bei der Übertragung von operativer Information aus dem Bereich der Kompanien in wissenschaftliche Zusammenhänge. Mit der Frage nach den Transformationen soll somit auch einen Beitrag zur Debatte um die durch die Integration solcher Wissensbestände ausgelöste Hinterfragung von Basiskategorien der Beurteilung von Wissen, der Methodik, der Testimoniumslehre und des Status von Disziplinen und Wissenschaft selbst geleistet werden.

Academics pursuing research in cultural studies and the history of knowledge have long been dealing with the correlation between ‘knowledge’ and expansion. From a variety of viewpoints they have examined the acquisition, representation, verification and distribution as well as the impact of ‘knowledge’. Concerning the repercussion on European cultures of knowledge, however, conclusions could hardly be more different. On the one hand, it was postulated that in the wake of European expansion, an increase in knowledge and information led to a readjustment of the European world view, undermining classic authorities and establishing empirical practices as the major source of knowledge. On the other hand, some have argued that for a considerable period of time expansion made next to no perceptible impact on traditional stocks, systems and practices of knowledge. In our opinion, these seemingly contradictory results hint at phenomena that can in fact be understood as complementary. In order to give a more nuanced description of these phenomena, it is important to take into consideration the epistemic and discursive frictions that arise when knowledge or information is transferred from one context to another, and at the same time to analyse the strategies for producing connectivity that are employed to overcome these frictions. The conference therefore will build on current research, while placing emphasis on the transformations of ‘knowledge’ in the wake of expansion.

It seems problematic that a diffuse modern understanding of ‘knowledge’ continues to be employed in current research, a notion that not can do justice to the specific historical processes occurring in the course of the transfer of information and data between different domains or discursive formations. We seek to surmount this problem by means of a radical historicization of the variety of phenomena labelled as ‘knowledge’, which will allow a fresh appreciation of the opportunities and problems arising from the process of knowledge transfer in an historical context. In the Seventeenth Century, ‘knowledge’ was often used as implying a claim to truth. Validated standards and practices for the verification of knowledge nevertheless differed, according to discipline and philosophical attitude. Consequently, different entitlements to knowledge were in competition with each other. In some cases, knowledge that was merely probable was accepted as proper ‘knowledge’ and consolidated for practical purposes, its theoretical incertitude all but ignored.

Against this background, two intimately connected fields of problems become evident once we consider the framework of Dutch expansion. On the one hand, the entities responsible for the expansion were trading companies, which had a typical mercantile understanding of ‘useful’ knowledge. This, on the other hand, caused the creation of specific conditions for the verification of ‘knowledge’ across distances, which always implied epistemic difficulties. The transfer of knowledge from the sphere of the company into other contexts almost inevitably induced disruptions. This gave rise to a number of epistemic and discursive conflicts, which in turn led to highly intricate correlations, rarely discussed in contemporaneous sources. Special strategies and patterns of argument were needed in order to ensure that this new knowledge was compatible with accepted bodies of ‘knowledge’.

We want to focus attention on those phenomena of knowledge transfer and the processes of producing connectivity, which often resulted in a concurrent transformation of knowledge. The following areas of inquiry will be of special interest in this regard:

1. In the first instance, it will be necessary to observe the specific settings and contexts in which knowledge and information were being transferred from the sphere of the companies into other areas. In the process, particular attention needs to be paid to the functional contexts that forced people to fall back on the stock of ‘knowledge’ provided by the trade companies. This point can be exemplified by reference to a range of scientific texts and projects in the fields of geography, chorography and botany as well as the history of nature, religion and philosophy. Further interfaces are to be found in publishing projects and efforts to popularize knowledge and even in cabinets of curiosities. The aim is not merely to provide a description of individual examples, but also to advance an analysis of the concrete historical contexts, especially the epistemic and communicative settings, in which these examples can be situated.

2. A further theme to be explored consists in the practices, strategies and procedures that were adopted to prevent recurring problems with connectivity in scenarios of knowledge transfer. In addition to tacit adoptions which seem to ignore the antagonisms between different entitlements to the status of proper knowledge, one can observe certain efforts to bridge epistemic breaks with the help of patterns of argument. This led to a range of punctual endeavours to justify credibility, on the one hand, and profound methodical considerations, on the other. A closely connected question concerns the specific forms of knowledge that could or could not be integrated. Regarding travelogues or pieces for cabinets of curiosities, for instance, it is possible to observe the formation of a canon, resulting in both closure and standardization. We will be looking beyond individual case studies for more general considerations about the appropriate manner in which these phenomena might be adequately analysed and described.

3. Thanks to a new contextualisation, knowledge was being subordinated to ‘systems of knowledge’ from which it did not originally stem. This is particularly evident in situations where operational and functional information was being transferred from the sphere of the trading companies to scientific settings. The study of the transformations of knowledge promises to shed light on major changes in the concepts that underlie the assessment of knowledge in the early modern period. The integration of such forms of ‘knowledge’ into new contexts challenged the methodology and the status of scientific disciplines. Our exploration of the transformations of knowledge should thus serve as a contribution to current debates.

Programm

14. Oktober

8:45
Andreas Höfele (München)
Begrüßung/ Opening Address
9:00
Susanne Friedrich (München)
Einführung/ Introduction
9:30
Kaffeepause/ Coffee Break
Moderation Arndt Brendecke
10:00
Benjamin Schmidt (Seattle/ Princeton)
Knowledge Products: Dutch Exotic Geography circa 1700
10:45
Surekha Davies (London)
Illustrated Dutch Maps and the Shaping of Knowledge about Human Diversity, 1598—1645
11:30
Kaffeepause/ Coffee Break
11:50
Anke Fischer-Kattner (München)
Transformationen und Transformativität von Wissen. François Le Vaillants Reiseberichte aus der niederländischen Kapkolonie
12:35
Mittagspause/ Lunch Break
Moderation Fabian Krämer
14:00
Antje Flüchter (Heidelberg)
Indian Statehood in Early Modern German Texts: Knowledge Transfer from the Travel Report to the Encyclopedia
14:45
Simona Valeriani (London)
Useful Knowledge in the Encyclopaedic Tradition between Europe, China and Japan
15:30
Kaffeepause/ Coffee Break
Moderation Stefan Ehrenpreis
16:00
Mareike Menne (Stuttgart/ Paderborn)
Durch die Niederlande zu China. China-Rezeption und der Umgang mit Wissenslücken im westfälischen Adel im 18. Jahrhundert
16:45
Barend Noordam (Heidelberg)
Military Intelligence Gathering and Dissemination: the Case of the Dutch VOC in the Chinese Strategic Context of the 17th Century
17:30
Kaffeepause/ Coffee Break
Moderation Eckhart Hellmuth
18:00
Lissa Roberts (Enschede)
Dejima as a Center of Accumulation and Mediation between the VOC and Japan
18:45
Abenddiskussion/ Discussion
mit einem Statement von Arndt Brendecke (Bern)

15. Oktober


Moderation Susanne Friedrich
9:00
Bettina Noak (Berlin)
Im Banne der Curiositas. Wouter Schouten (1638—1704) als Ethnologe und Naturwissenschaftler
9:45
Anjana Singh (London)
The Hortus Malabaricus: Hendrik Adriaan van Reede tot Drakestein's Encyclopaedia on the Flora of the Malabar Coast (12 Volumes, 1678—1703).
10:30
Kaffeepause/ Coffee Break
Moderation Martin Gierl
11:00
Stefan Ehrenpreis (München)
Knowledge of Brazil and its Representations in the 17th Century Netherlands and Germany
11:45
Kaffeepause/ Coffee Break
12:05
Abschlussdiskussion/ Concluding Discussion


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