Im Zeitalter der Reformation entstehen im Rahmen des Prozesses der religiösen Pluralisierung neben der katholischen und der sich neu konstituierenden protestantischen Orthodoxie diverse nonkonforme religiöse Strömungen; insbesondere sind hier die Vertreter der sogenannten Radikalreformation zu nennen, wie Spiritualisten, Schwärmer, Täufer und Antitrinitarier. Die Anhänger dieser verschiedenen heterodoxen Bewegungen entwickeln Strategien, die es ermöglichen, dem Anpassungszwang der kirchlichen Autoritäten auszuweichen. Dabei entstehen unabhängig von den Institutionen der Orthodoxien eigenständige Formationen.
1615 löste die Entdeckung einer antitrinitarisch-sozinianischen Gruppierung an der Nürnberger Akademie zu Altdorf umfangreiche Ermittlungen der lokalen Obrigkeit aus, die mit der Flucht beziehungsweise Bestrafung mehrerer Beteiligter endeten. Zwei Altdorfer Studenten wurden als Rädelsführer ausgemacht, inhaftiert und zu öffentlicher Revokation genötigt. Zunächst waren körperliche Strafen erwogen worden; dann aber entschied man sich für eine vergleichsweise nachsichtige Behandlung der Beteiligten. Die Nürnberger Obrigkeit zielte im konfessionspolitischen Spannungsfeld, in dem Nürnberg als freie protestantische Reichsstadt einerseits und als kaisertreuer Teil des Heiligen Römischen Reichs andererseits stand, vor allem auf die Wahrung des guten Rufs der noch nicht zur Volluniversität erhobenen Semiuniversitas.
Die Zentralfigur in der Geschichte des religiösen Nonkonformismus an der Akademie zu Altdorf ist der Medizin- und Philosophieprofessor Ernst Soner (1573—1612). Soner studierte zunächst in Altdorf unter Philipp Scherbe und Nikolaus Taurellus. Seine anschließende peregrinatio academica führte ihn nach Padua, wo er Cesare Cremonini (1550—1631) begegnete.
Mit diesem damals berühmten Professor kam nicht nur Soner, sondern auch Gabriel Naudé (1600—1653) in Berührung. Dieser charakterisierte Cremonini als Atheisten, der Dissimulation betrieb ("Cremonin cachoit finement son jeu en Italie "). Nach Naudés Einschätzung war der Paduaner aber keineswegs ein Einzelfall: "Tous les Professeurs de ce païs-là, mais principalement ceux de Padoüe sont gens déniaisez, d'autant qu'étant parvenus au faîte de la science, ils doivent être détrompez des erreurs vulgaires des siècles […]." Neben theologisch anstößigen (epistemologisch jedoch bedeutenden) Ausformungen des Aristotelismus, wie sie in Padua vertreten wurden, lernte Soner während seiner Reisen auch den Antitrinitarismus kennen, den er später als akademischer Lehrer an seiner Altdorfer Heimatuniversität unter den Studenten verbreitete.
Anders als beispielsweise die französischen esprits forts (zu denen auch Naudé zählte) oder gewisse italienische Gelehrte, die ihre persönlichen Überzeugungen nur im Kreis elitärer ‚Eingeweihter' offenbarten, suchte Soner seine Einstellung offenbar weniger zu verbergen — eine Haltung, deren Funktion und Motivation unter anderem vor dem Hintergrund der Nikodemismusforschung (Carlo Ginzburg) und unter wissenssoziologischen Gesichtspunkten zu untersuchen ist: Zwar vermied Soner es, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen oder gar Anstoß zu erregen; mit Rücksicht auf die eigene Stellung testete er lediglich vorsichtig die Grenzen des dogmatisch und sozial Anerkannten aus. Gleichwohl vermittelte er im Rahmen seiner akademischen Lehrtätigkeit und seiner Schriften heterodoxes Gedankengut an seine Studenten, suchte eine größere Anhängerschaft zu gewinnen, Netzwerke zu bilden und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen.
Von besonderem Interesse für das SFB-Teilprojekt sind die Strategien, die es den Beteiligten ermöglichten, das Gegen- und Nebeneinander ihrer religiösen (Nicht-) Zugehörigkeiten zu rechtfertigen und in einem antagonistischen Zusammenspiel provisorische Lösungen auszuhandeln.
Wie sich am Beispiel Altdorfs, aber auch Paduas zeigt, ist der religiöse Nonkonformismus in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur ein vielgestaltiges Gesamtphänomen, das sowohl Differenzen als auch Analogien und Zusammenhänge sichtbar werden lässt.
Von Interesse ist überdies, wie problematisches Gedankengut camoufliert wird und durch welche textuellen und handlungspraktischen Taktiken Räume der Unaufmerksamkeit beziehungsweise Spielräume der Toleranz ausgenutzt werden. – Lassen sich Prozesse des Aushandelns von Kompromissen, der Vergleichgültigung konträrer Positionen oder Versuche der Entschärfung konflikthaltiger Strukturen und Situationen beobachten? Über welche Wege und Medien zirkulierte subversives Gedankengut? Nach welchen Affinitäten bildeten sich Netzwerke? Und: Welche Strategien (Kommunikationsformen, Nikodemismus, Dissimulation, Ambivalenz, textuelle Kodierung etc.) wurden entwickelt, um dem Anpassungsdruck durch die säkulare und kirchliche Autorität zu entgehen und sich im Schatten der Obrigkeit auszutauschen?
Die geplante Tagung soll ein breites Spektrum von Forschungsperspektiven zur religiösen Pluralisierung im Milieu akademischer Institutionen der Frühen Neuzeit auffächern. Zu fragen ist nach den intellektuellen Voraussetzungen und soziokulturellen beziehungsweise (religions-) politischen Rahmenbedingungen, welche die Genese dissidenter Ideen sowie ihre Verbreitung im akademischen Umfeld bestimmen.