Bereichsbeschreibung C
Pragmatisierung der Autorität

Die Frage nach der Pragmatisierung von Autorität bietet eine umfassende, verschiedene Wissensbereiche, Kommunikationsformen und Deutungsinstanzen verbindende Perspektive, die die explosive Erweiterung der Erfahrungen und Kenntnisse, neuartige Anforderungen an soziales Handeln und das Problem der Autorität in einen Zusammenhang stellt. Einerseits soll verfolgt werden, wie sich Autorität unter neuen epistemischen und pragmatischen Bedingungen zu konstituieren vermag, andererseits, wie bestehende Autoritäten und Sinngefüge zur Absicherung gesellschaftlicher Terrains funktionalisiert und reinterpretiert werden. Im Vordergrund steht die grundsätzliche Frage, wie frühneuzeitliche Gesellschaften, für die die Existenz pluraler Deutungen nicht in einem allgemein akzeptierten Wertekanon verankert war, sondern sich letztlich als etwas Fremdes und Unerwünschtes darstellte, mit faktischer Pluralität umgingen, sie zu reflektieren, zu integrieren, zu kanalisieren oder zu pazifizieren vermochten. Inwiefern ergaben sich aus der Konkurrenz von Autoritäten jeweils Veränderungen, Erweiterungen oder — selbst unter Beibehaltung traditionaler Bindungen — gegenseitige Beeinflussungen von Handlungs- und Autorisierungsmustern? Wo und mit welchen Mitteln schließlich wurden identitätsbildende Grenzziehungen vorgenommen?

Die Bedeutung dieser Fragen ist auf mehreren Ebenen der Konstituierung und Verankerung von Ordnungs- und Handlungsstrukturen nachvollziehbar:

Mit Blick sowohl auf die lebensweltliche wie auf die (natur)wissenschaftliche Ebene im Bereich der Krankheiten und Medizin wird die Pluralisierung der Körper- und Krankheitsauffassungen im 16. und 17. Jahrhundert untersucht Teilprojekt C3 (Stolberg). Anhand von praxis- und erfahrungsnahen Quellen (Fallgeschichten, Patientenbriefe etc.) soll dargestellt werden, wie Heilkundige und Kranke mit den neuen, pluralen Konzepten und Erklärungsmodellen zurechtkamen und mit welchen Mitteln sie im alltäglichen Umgang mit Krankheit dennoch meist zu einer klaren diagnostischen und therapeutischen Entscheidung gelangten. Parallel dazu leistet die Analyse der Vermittlungsfunktion des Rechts am Gegenstand 'Alter' und 'Krankheit' einen Beitrag, der die Tendenzen von Pluralisierung und Vereinheitlichung bei der sozialen und kulturellen Normierung anhand spezifisch rechtshistorischer Quellen untersucht Teilprojekt C5 (Landau).

Die Ebene der Konstituierung politischer Handlungsmuster bildet für mehrere Projekte einen Schwerpunkt: Das Projekt zur Verrechtlichung der Internationalität geht von Vorstellungen und Denkordnungen im westeuropäischen Adel aus. Über Standeserziehung sozialisierte Denkmuster wurden in Verfahren international anerkannter Konfliktregelung überführt. Aus einem auf praktische äußere Anforderungen reagierenden Handlungswissen generierte sich sukzessive gelehrtes Wissen und eine Rechtsnorm, die als Frühform internationalen Rechts (Völkerrechts) in ihrer Genese aus der politisch-diplomatischen Praxis wie aus rechtshistorischer Traktatliteratur zu erschließen ist Teilprojekt C4 (Kintzinger). Daran schließt sich die Untersuchung der Pragmatisierung juristischer Denkfiguren und historiographischer Diskursnormen in Texten an, die den konfliktiven Aufbau staatlicher und kirchlicher Autorität in den militärisch erschlossenen, jedoch noch autoritätsarmen Räumen der Neuen Welt widerspiegeln Teilprojekt C6 (Oesterreicher). Die Funktionalisierung juristischer und historiographischer Argumentationsmuster soll in der Struktur alltagsweltlicher Dokumente (Privatbriefe, Eingaben, Testamente etc.) diskursanalytisch aufgezeigt werden.

Thematisch anschließend soll politisch-obrigkeitlichen Versuchen, Herrschaft und Ordnung zu konstituieren, nachgegangen werden, wobei hier die Einhegung konfessioneller Pluralisierung bzw. der Umgang mit deren Auswirkungen im Blickpunkt steht Teilprojekt C8 (Schulze). Hieran knüpft sich aber auch die Frage nach der lebensweltlichen Verankerung konfessioneller bzw. konfessionell übergreifender religiöser Wissensbestände innerhalb der Bevölkerung. Untersucht werden soll der Stellenwert von konfessioneller Pluralisierung und Autorität im Alltag, ebenso, inwieweit religiös-konfessionelle Wissensbestände eine identitätsstiftende Wirkung entfalteten. Für einen weiteren Konfliktbereich thematisiert das Projekt 'Zuwanderung und Fremdenakzeptanz' Teilprojekt C9 (Schulze) am Beispiel der böhmischen Zuwanderung nach Sachsen und in die Oberlausitz (17. — 18. Jh.) die Ebene lebensweltlicher Erfahrung von Pluralisierung vor dem Hintergrund von obrigkeitlicher Normsetzung. Hier geht es um die Veränderung des alltäglichen Wissens im Umgang und Austausch mit dem Fremden, um die Möglichkeiten lebensweltlichen Widerspruchs gegen Herrschaftsautorität sowie um die Frage nach der Etablierung neuer Sichtweisen und Normen des Zusammenlebens von Fremden und Einheimischen.

In bezug auf die Entwicklung und Ausstrahlung lutherischer Konfessionskultur im alten Reich sowie am Beispiel des niederländischen Reformiertentums soll die Ausbildung mentaler, institutioneller und diskursiver Autorisierungsstrategien vor dem Hintergrund der einzig als 'infallibel' anerkannten Norm der theologischen Urteilsbildung, der Heiligen Schrift, die pragmatisch auf regulative normative Instanzen wie Bekenntnisse, die Vernunft, das 'Gemeinwohl', die ständische Ordnung oder die Staatsräson bezogen wurde, analysiert werden.

Unter den spezifischen verfassungsgeschichtlichen und religionsrechtlichen Bedingungen der niederländischen Ständerepublik stellt sich das Verhältnis der reformierten Theologie zu unterschiedlichen philosophischen Referenzsystemen (Aristotelismus, Grotius, Cartesianismus, Spinozismus), denen an den verschiedenen neugegründeten Universitäten der Niederlande zeitweilig besondere Aufmerksamkeit zukam, als Schlüsselproblem eines konfessionsinternen theologischen Pluralisierungsprozesses dar Teilprojekt C7 (Rohls). Bei all dem darf sich ein Begriff von religiöser Pluralisierung in der Frühen Neuzeit nicht auf die großen Konfessionen beschränken. In den Fragekomplex ist zum einen auch die Problematik kleinerer konkurrierender religiöser Bewegungen einzubeziehen, die die autoritativen Strukturen weitgehend in Frage stellten und eigenständige Diskurskommunitäten ausbildeten Teilprojekt C1 (Ehlich). Vor dem Hintergrund einer notwendigen Unterscheidung zwischen akzeptierter Pluralisierung und Pluralisierung wider Willen soll der Verschränkung ekklesiologischer und politischer Deutungsperspektiven besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

zum Seitenanfang