C 14 Oblivio: Zur Semiotik und Pragmatik des Vergessens in England um 1600
(Englische Philologie, Literatur- und Kulturwissenschaft)

History of the World
Institut für Englische Philologie

Postadresse: Schellingstraße 3, 80799 München
Telefon: (089) 2180-1383
Telefax: (089) 2180-16530

Projektleiter

Prof. Dr. Tobias Döring
tobias.doering@anglistik.uni-muenchen.de

Mitarbeiter

Dr. Isabel Karremann, wiss. Mitarbeiterin
Telefon: (089) 2180-4083
isabel.karremann@anglistik.uni-muenchen.de

Nicolas Mayr, stud. Hilfskraft
nicomayr@gmx.de






Rückschau

Vorträge der Projektleiter/Mitarbeiter

Projektbeschreibung

Erinnerung ist eine — wenn nicht die — Elementarfunktion aller Kultur und Vergesellschaftung. Deshalb kommt dem Status des Erinnerten wie den Instanzen, Medien und Verfahren seiner Wahrung oder Wartung stets emphatische Autorität zu. Im Zuge von Pluralisierungsschüben muss diese Autorität sich allerdings daran bewähren, wie sie sich gegenüber konkurrierenden Gedächtnisakten positioniert und zu deren Geltungsansprüchen ins Verhältnis setzt. Damit unterliegt die Polarität von Pluralisierung und Autorität immer auch Prozessen des Vergessens und Vergessenmachens, denen sie antwortet wie auch zugleich die Richtung weist.
Das zeigt sich in der Frühen Neuzeit beispielhaft an religiösen Umbrüchen und Neuordnungen. Zumal in England, wo die Konkurrenz der Glaubenspraxis im Tudor-Zeitalter innerhalb einer Generation nicht weniger als dreimal eskalierte (um 1533/38, 1547 und 1553) und anschließend, als Ergebnis einer vorläufigen Stillstellung, zur spannungsreichen Hybridkonstellation des elisabethanischen Act of Uniformity (1559) führte, war die Modellierung des kulturellen Gedächtnisses nur durch die Wirksamkeit — und um den Preis — gezielter Arbeit am Vergessen möglich, die allerdings vielfach das Vergangene nicht verwarf, sondern dem Gegenwärtigen anverwandelte. Wenn selbst in einem so zentralen Bereich des Normativen wie der Kirche derartige Hybridbildungen vorliegen, dass die reformierte Glaubenspraxis Erinnerungen an die frühere gleichermaßen weckt wie tilgt, stellt sich umso dringlicher die Frage, wie englische Kultur in einem Prozess von Pluralisierung mit der Autorität dessen verfährt, was nicht mehr maßgeblich sein soll und was sich gleichwohl einer Löschung aus dem kulturellen Gedächtnis entzieht. Das Problem war zeitgenössisch wohl bekannt und wurde im Zuge der ars memorativa auch verhandelt, beispielsweise durch John Willis, wenn er in Mnemonica (1661) ausdrücklich von einer "Art of Oblivion" spricht.
Diesem Hinweis folgend will das Teilprojekt im Dialog mit neueren Forschungsansätzen die Semiotik und Pragmatik des Vergessens in England um 1600 untersuchen. Insbesondere ist zu fragen, wie vormals verbindliche Autoritätsfiguren bzw. deren Manifestationen in Monumenten, Texten oder Ritualen unter neu geschaffenen Verhältnissen, die ihnen Grund und Status ihrer Leitbildhaftigkeit entzogen haben, fortexistieren und welchen kulturellen Raum sie — ausrangiert, umkodiert, annulliert — im veränderten System womöglich dennoch einnehmen. Unter "Semiotik" wird im Sinn der Cultural Poetics die Zeichenordnung der Kultur verstanden, die sich in Texten wie Kontexten darstellt; unter "Pragmatik" das Ensemble von sozialen Praktiken, die deren Handhabung und Durchsetzung bestimmen.
Das Teilprojekt zielt damit auf die Neubestimmung literarischer Muster und performativer Verfahren, mit denen die Konstitution, Ausgestaltung oder Umbesetzung des kulturellen Gedächtnisraums, wie ihn die Memoria-Forschung untersucht, zugleich Strategien der Invisibilisierung, Desemantisierung oder Umkodierung ins Werk setzt. Diese kommen in einer Oblivio-Perspektive in den Blick, sind aber bislang kaum als produktive Kulturtechniken untersucht worden, da sie allenfalls als Rand- oder Begleitphänomene des Erinnerns gelten. In einer Doppelsicht, die beidem — dem wirksam Erklärten wie, gegenläufig dazu, dem erklärtermaßen Unwirksamen — Aufmerksamkeit widmet, unternimmt das Teilprojekt eine problemzentrierte Neubestimmung eben solcher Texte, die für Formen und Funktionen des Erinnerns traditionell besonders einschlägig sind: Funeral Elegies und History Plays. Trauerelegien und Geschichtsdramen bilden Medien und Modelle des Erinnerns. Als solche setzen sie die Wirkung des Vergessens nicht nur stets voraus, sondern setzen sie auch ein. Denn mit der Modellierung eines kulturellen Gedächtnisraums zielen sie zugleich auf Maßnahmen der Löschung, Umbesetzung, oder Anverwandlung. Diese in der englischen Kultur um 1600 im Spannungsfeld der religiösen Neuordnung zu untersuchen und in der Relektüre zentraler Texte zu erkunden nimmt dieses Teilprojekt sich vor. Denn erst eine erweiterte Lektüre von zentralen Text- und Performanzleistungen, die zeitgenössisch einst als Medien des Erinnerns galten, nun aber als Medien des Vergessens und Vergessenmachens zur Untersuchung stehen, kann erweisen — so die zentrale These —, wie im Schatten eines Leitdiskurses nicht nur Widersprüchliches fortexistiert, sondern wie sich dessen Autorisierung allererst dem Widerspruch pluraler Geltungsakte verdankt.

Memory is an elementary, constitutive and authorizing function of culture and society. In the process of pluralization, however, cultural memory and its authority are generally tested and challenged by rivalling acts of memory and their counter-claims. Thus the dynamics of pluralization and authorization are themselves subject to processes of oblivion and obliteration, meeting their challenge and informing their course in turn.
A case in point are the religious conflicts and reforms in the early modern period. In Tudor England, rivalling religious practices annulled and superseded each other no less than three times within one generation (in 1533/38, 1547 and again in 1553), and were only brought to a temporary standstill in the Elizabethan Act of Uniformity (1559), a highly tenuous attempt at hybridization. The necessary adjustments of cultural memory could only be achieved through a strategic deployment — and at the price — of forgetting. This forgetting, however, did not so much eliminate the past but tried to appropriate it to present purposes. This led, among others, to the problem that some reformed practices of faith continued to recall the old while seeking to consign it to oblivion. Given that central sites of normative power like the church championed such hybrid formations, how did other fields of English culture meet the challenges of pluralized authority and how did they deal with the authority of what was officially sanctioned yet remaind part of cultural memory? How effectively could people forget, or be made to forget? Contemporaries were in fact aware of this problem and addressed it in the context of the ars memorativa, for example in John Willis’s study Mnemonica (1608/61), explicitly calling for an "Art of Oblivion".
Taking the cue from Willis, our project therefore sets out to examine the semiotics and pragmatics of forgetting in English literature and culture around 1600. It specifically looks at the ways in which acts of discarded authorities and their manifestations in monuments, texts or rituals persist under changed conditions which rob them of legitimacy and of their paradigmatic status. What cultural systems regulate memory and forgetting? What social practices authorize the use of these systems? How and where, potentially, can they remain part also of alternative systems of meaning?
In this way, our project seeks to reassess how cultural memory is constituted, organized and altered in literary texts as well as through performative acts. For this aim, we try to extend the usual focus of research into memoria culture and pay more attention to the strategies of forgetting which it always necessarily involves, i.e. strategies of making memories invisible, invalid, meaningless or simply different.
These strategies have so far been relegated to the margins of memory, mere epiphenomena of the more central processes of remembering. Our focus on oblivion, however, is meant to foreground them as central and productive cultural techniques. The project thus employs a double perspective that takes into account what has been declared invalid and effectively devalued, in order to re-examine two literary genres which traditionally have been of primary significance for acts of remembrance: funeral elegies and history plays. Functioning both as media and models for the processes of memory, these genres in fact not only presuppose acts of forgetting but also employ various strategies of annulment, alteration or appropriation so as to regulate the space of cultural memory. Situated in a precarious dynamics of religious reform, English literature around 1600 provides an especially fruitful field for the examination of such strategies. While both funeral elegies and history plays were considered media of remembering in their time, re-reading some central texts and performative practices of the two genres as media of forgetting can show not only how contradictory beliefs can persist in the shadow of a dominant discourse but also how its authority derives in the first place from the pluralization of authority in counter-discourses.

zum Seitenanfang