Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt
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Projektleiter
Prof. Dr. Martin Mulsow
martin.mulsow@uni-erfurt.de
Projektbeschreibung
Gegenstand
des Projekts ist Traktatliteratur diverser Disziplinen des 17.
Jahrhunderts, die Momente mehrdeutiger, ironischer, ambivalenter oder
widersprüchlicher Rede in sich enthält: von iocoseria-Texten
aus dem akademischen Milieu über menippeische Satitrik bis zu
skeptisch-libertinen und sich bewußt hinter Widersprüchen verbergenden
radikalen Werken. Diese Texte sollen als einheitliches Phänomen im
Hinblick auf die Krise der Pluralisierung gedeutet werden.
Mehrdeutigkeit taucht, so die These, dort auf, wo pluralisierte
Erfahrungen und Weltsichten nicht mehr integriert und auf ein
einheitliches System reduziert werden. 'Libertinage érudit' ist dann
nicht mehr wie bisher nur als Proto-Aufklärung zu verstehen, sondern
zunächst als Ausdruck einer Weigerung vor neuer Autorisierung. Damit
wäre ein Punkt gefunden, von dem aus die Frage nach der Möglichkeit der
Kopräsenz von Wissensbeständen in einzelnen Individuen angegangen
werden kann: Indem die untersuchten Texte auf ihre historischen und
politischen Kontexte bezogen werden, wird idealiter sichtbar, welche
Funktionen skeptisch oder ironisch 'ausgehaltene' Pluralität jeweils im
Handeln haben konnte: ob handlungsermöglichend etwa in der Pragmatik
des Alltags bei gelehrten Politikern oder handlungshemmend etwa im
Rückzug auf private Sodalitäten. In der jetzigen zweiten Phase des
Projektes steht die venezianische Accademia degli Incogniti im
Mittelpunkt, eine Akademie des mittleren 17. Jahrhunderts mit
libertinistischer Ausrichtung. Das Projekt wird von Einzelstudien
ausgehen, dann eine möglichst vollständige Erfassung der Primärquellen
anstreben und in seiner letzten Phase die größeren Fragen historischer
Psychologie nach den Merkmalen frühneuzeitlicher Personalität in den
Blick nehmen.
Zur Zeit sind in Arbeit:
- Eine
kommentierte Edition von Johann Georg Wachter: Theologia Martyrum
(1712), Ms. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, and dem sich
zeigen läßt, wie unterschiedlichste, pluralisierte Traditionen wie
Spinozismus einerseits und Logos-Theologie andererseits mit bestimmten
Textstrategien verbunden werden konnten.
- Eine Edition
und Übersetzung der handschriftlich erweiterten "Apologia pro Vanino"
von Peter Friedrich Arpe, Ms. Theol 1222 der Staats- und
Universitätsbibliothek Hamburg, ein Text, bei dem kontrovers ist, ob er
in der Art eines paradoxen Enkomions nur vorgibt, einen Atheisten zu
"retten", oder ob er dies wirklich intendiert.
- Eine
Monographie mit dem Arbeitstitel "Der Philosoph mit der Maske.
Dissimulation, Inkohärenz und Libertinage in der Frühen Neuzeit", die
sich aus Einzelstudien innerhalb des Projektes zusammensetzen wird.
- Eine
Edition und Übersetzung des anonymen "Ineptus religiosus" (1652) samt
einer parallelen Edition und Übersetzung von Johann Balthasar Schupps
"Ineptus orator". Die Texte zeigen den Übergang von Burleske zu
Libertinage.
- Eine kommentierte Übersetzung von:
François La Mothe Le Vayer: Von den seltenen und vorzüglichen
Eigenschaften der Esel unserer Zeit (zusammen mit Martin Schmeisser aus
Teilprojekt A1. Der Text ist ein doppelbödiges paradoxes Enkomion, in
dem zahlreiche relativistische, skeptische und libertinistische
Ansichten transportiert werden.
- In Zusammenarbeit mit Teilprojekt C7
(Rohls) werden eine Reihe von Studien im Bereich Sozinianismus und
Arminianismus des 17. Jahrhunderts vorgenommen. Vom Teilprojekt A2 aus
besteht ein besonderes Interesse an den "dialogischen"
Schreibstrategien mancher arminianischer bzw. sozinianischer Texte, die
auf diese Weise hypothetische oder experimentell geäußerte Ansichten
vermitteln wollen. Im Juli 2002 wurde eine gemeinsame Konferenz
durchgeführt: "Socinianism and Cultural Exchange. Arminian and
Antitrinitarian Networks in Europe 1650—1720",deren Ergebnisse
demnächst auf Englisch publiziert werden. Längerfristig geplant ist
weiterhin in diesem Rahmen ein Arbeitsbuch Sozinianismus/Arminianismus
sowie eine Edition der Korrespondenz Samuel Crells.
- Für
die kommenden Jahre ist eine Monographie mit dem Titel "Eine
Kulturgeschichte der Wahrheit. Venedig 1650" angestrebt, in der die
Accademia degli Incogniti und ihre Repräsentationsformen von Wahrheit
in Philosophie, Literatur und Kunst im Mittelpunkt stehen werden.
Weiterhin
ist an das Teilprojekt ein Editionsvorhaben angeschlossen, das auf
längere Zeit berechnet ist und das Reisejournal von Gottlieb Stolle
(1703/4, Universitätsbibliothek Breslau) zugänglich machen soll. Das
Reisejournal ist eine unschätzbare Quelle für das intellektuelle Milieu
in Mittel- und Norddeutschland an der Wende zum 18. Jahrhunderts und
soll auch den anderen Teilprojekten, etwa B1, B3, B4, C7 zugute kommen.
Für Einzelheiten siehe
www.pierre-marteau.com/